Nicht unterkriegen lassen
Vor über 70 Jahren kam Renate Klingelhöfer nach ihrer Flucht aus Oberschlesien mit ihrer Familie in Ortenberg-Eckartsborn ankam. „Wir sind heute noch Flüchtlinge“, sagt die 85-Jährige im Gespräch mit Karin Frech, Geschäftsführerin von Frauen Arbeit Bildung (FAB), eine gemeinnützige Organisation, die sich als Bildungs- und Beschäftigungsträger mit Schwerpunkt Qualifizierung und (Wieder-)Eingliederung von benachteiligten Personen auch um Flüchtlinge kümmert. Die Sozialdemokratin Klingelhöfer ist für ihr soziales Engagement mit dem Hessischen Verdienstorden ausgezeichnet worden. Die Erinnerung an die Zeit ihrer Flucht aus Oberschlesien sind „so lebendig, als wäre es gestern erst passiert“. Den Schmerz, den sie während der Kriegs- und Nachkriegszeit erfahren hat, trägt sie weiter in sich. Nicht Verzweiflung, sondern Versöhnung und Empathie für alle Menschen, die ihr begegnen, ist ihre Antwort darauf.Wir sind heute noch Flüchtlinge
Frech: Sie kommen aus Gräfenort, einem Ort in Oberschlesien, der heute Grotowice heißt und zu Polen gehört. Ihr Leben scheint damals schon sehr fortschrittlich gewesen zu sein…
Klingenhöfer: Ja, das stimmt. Es war selbstverständlich, dass die Frauen arbeiten gingen, wenn auch einige unter ihnen Schützengräben ausheben mussten. In Gräfenort gab es einen Ganztagskindergarten. Die Erzieherinnen, dazu gehörte meine ältere Schwester, die auch den Kindergarten geleitet hatte, gingen mit den Kindern sehr viel in den Wald. Das war sozusagen ein Waldkindergarten.
Sie waren elf Jahre alt, als Sie aus Ihrer Heimat fliehen mussten und können sich noch an viele Details erinnern…
Als es hieß, dass wir fliehen mussten, bekam jedes Kind einen Rucksack aufgeschnallt und meine Mama, meine Tante und andere Dorfbewohner liefen mit uns Kindern durch einen schweren Schneesturm drei Kilometer zum nächsten Bahnhof nach Groschowitz. Als wir nach zwei Tagen in Chemnitz ankamen, fielen Bomben auf unsere erste Bleibe, in der wir uns aufhielten. Wir wurden verschüttet. Ich hatte als Kind statt der Wäsche heimlich Silberbesteck und meine Geldkassette in meinen Rucksack gepackt. Ein Teelöffel und ein kleines Büchlein sind das einzige, was mir geblieben ist.
Wie ging es danach weiter?
Wir kamen über Prag, Pilsen schließlich über die Grenze bei Böhmisch Eisenstein nach Bayern. Auf diesem Weg hatte man uns alles genommen. Man hatte uns ausgehungert, gejagt und wollte uns mehrmals erschießen. Als wir schließlich unter großer Mühe im Bayrischen Wald landeten, wollte uns niemand haben: Wir waren evangelisch, Preußen und dazu noch Flüchtlinge. Ebenso erging es uns, als wir nach einem Jahr schließlich in Eckartsborn ankamen. Meine Mutter stand auf der Straße mit ihren fünf Kindern. Die damaligen Dorfbewohner sagten: „Nichts ham se mitgebracht außer ’nen Haufen Kern.“ Wir lebten auf 17 Quadratmetern mit sechs Personen eingepfercht und meine Mutter musste sich das Wasser zum Kochen von der Nachbarin holen.
Sie sind im sozialen Bereich und in der Kommunalpolitik schon früh eine feste Größe geworden. Wie lange hat es gedauert, bis sie in Eckartsborn angenommen wurden?
Wir sind heute noch Flüchtlinge. Ich habe jahrelang Treffen für die Menschen aus Gräfenort organisiert und wir haben eine Linde in Eckartsborn gepflanzt. An der Linde ist eine Plakette angebracht. Die haben sie uns schon zweimal abmontiert.
Aufpasssen, dass sich die Geschichte nicht widerholt
Was Sie auf der Flucht erlebt haben, widerfährt heute wieder vielen Flüchtlingen…
Ja, das ähnelt sich sehr. Wir müssen aufpassen, dass sich die Geschichte nicht wiederholt. Die AfD will unsere Demokratie demontieren. Ich finde das schlimm und frage mich, was sie als Alternative betrachten.
Sie haben auch den Verein „Frauen Arbeit Bildung“, kurz FAB, mitgegründet und sich früh für die Rechte der Frauen eingesetzt. Die Nazis hatten den Frauen alle Rechte, die sie in den Zwanzigerjahren errungen hatten, wieder sukzessive abgenommen. Jetzt wirbt die AfD mit einem konservativen und national geprägten Familienbild. Wie denken Sie darüber?
Das ist doch unnormal, was die uns vorschreiben wollen. Wenn die Frauen nicht selber ihre Berufe ausüben oder gelernt hätten, würde der Staat gar nicht existieren können. Es steht nirgends in der Bibel, dass die Frauen nicht arbeiten dürfen. Es war früher schon so, dass die Frauen leitende Stellungen innehatten. Das ist wider die Natur, wenn es heißt, die Frauen dürfen dies und das nicht.
Wie war das, als sie das erste Mal wieder nach Gräfenort zurückkehrten?
1975 konnten wir nach 30 Jahren das erste Mal wieder nach Gräfenort. Diese Fahrt habe ich ein Jahr lang vorbereitet und zum Teil heimlich organisiert. Es ist schmerzhaft, dass wir all unser Hab und Gut verloren haben. Doch wir haben den Krieg angezettelt und ihn verloren. Für jeden Krieg muss man etwas geben. Wir haben die Reparationszahlungen bezahlt, damit die Leute daheimbleiben konnten. Ich habe dem älteren Herrn, der in unserem Haus wohnte, erzählt, wie es uns ergangen ist, und gesagt: „Wir wollen nichts zurück. Aber es ist unsere Heimat und die lassen wir uns nicht nehmen. Sie sind hier geboren, aber ich bin auch hier geboren und wir wollen ab und zu wiederkommen.“ Wir haben dort viel geholfen, die Renovierung der Kirche finanziell unterstützt und die Menschen dort mit Medikamenten versorgt. Nach kurzer Zeit hatten die Bewohner Vertrauen zu uns gefasst.
Sie haben vier Kinder, zehn Enkelkinder und sechs Urenkel, waren früh im Schulelternbeirat, im Ortsbeirat, in der Stadtverordnetenversammlung, im Kreistag und im Kreisausschuss engagiert. Dazu noch in der Kirche und bis heute im Seniorenbeirat. Wie schaffen Sie das?
Als ich im Kreistag war, hatte ein Kreisbeigeordneter mich gefragt, wann ich das alles erledigt hätte und wie das sei, wenn ich abends nach Hause käme? Eine gute Einteilung ist die halbe Arbeit. Und wenn ich nach Hause kam, bin ich auch mal über einen Haufen Wäsche geklettert. Ich habe nicht jedem Staubkorn hinterhergewischt. Vieles erledigt sich auch von selbst. Im Übrigen hat jede Frau das Recht, sich ihre Rente zu erarbeiten. Denn eine Heirat ist keine Absicherung fürs Alter.
Ich habe vor keinem Angst
Was war Ihre größte Motivation, sich zu engagieren?
Meine Erfahrungen auf der Flucht bewegen mich, allen Menschen zu helfen, die sich nicht selbst helfen können. Meine Eltern waren sehr religiös und sozial und hatten während des Krieges auch ein jüdisches Ehepaar versteckt. Meine Mutter gab Erste-Hilfe-Kurse. Sie hatte englische Kriegsgefangene zu uns an den Tisch geholt, obwohl sie wusste, dass es verboten war. Darauf angesprochen sagte sie: „Mein Sohn ist im Krieg und ich möchte, falls er in Gefangenschaft geraten sollte, dass er ebenfalls menschlich behandelt wird.“ Und er wurde dann wirklich in Schleswig-Holstein interniert und ist menschlich behandelt worden.
Auch damals gab es einige Leute, die passiven Widerstand leisteten und erkannten, dass dieser Weg nicht der richtige war…
Die Menschen, die heute leichtfertig völkisches Vokabular verwenden, sollten erfahren, wie wir und viele andere damals gelitten hatten. Wie können sie sich erdreisten zu sagen, das ist unser Land. Es ist nicht unser Verdienst, dass wir hier geboren sind. Jeder hat das Recht zu fliehen, wenn seine Kinder Hunger haben. Im Übrigen: Jede Frau weint um ihr Kind. Ob sie Deutsche ist oder aus Syrien stammt.
Es gibt mittlerweile einige Frauen, die das Rad zurückdrehen und wieder an den Herd wollen. Andererseits gehen weltweit die Frauen auf die Straße und demonstrieren für ihre Rechte. Was würden Sie denen raten?
Sie sollen sich nicht unterkriegen lassen und sich aber bewusst sein, dass sie dicke Bretter bohren müssen. Das, was die Frauen heute dürfen, haben andere Frauen schwer erarbeitet. In meiner politischen Laufbahn habe ich mir einiges anhören müssen. Ich habe mir nie etwas gefallen lassen. Ich habe vor keinem Angst, ich bin doch auch wer.