Gegen volkstümelnde Krähwinkelei
Von Kurt Werner Sänger
In diesen Zeiten aufgeblüten völkischen Gedankengutes keimt auch populistischer Dialektfolklorismus. Der Bad Vilbeler Dialektdichter- und forscher Kurt Werner Sänger wendet sich in einem Beitrag für den Landboten gegen volkstümelnde Krähwinkelei und Sonntagsheimaten. Sänger wendet sich dagegen, einen hessisch Dialekt zu erfinden.Es gibt kein Hessisch
Hessisch als gemeinsames sprachliches und kulturelles Merkmal aller Hessen gibt es nicht. Das Bundesland Hessen wird per Proklamation im September 1945 von General Eisenhower geschaffen. Die bis dahin historisch nicht einheitlich verfassten Kernterritorien aus Kurhessen, dem Großherzogtum Hessen-Darmstadt und Hessen-Homburg, der Freien Reichsstadt Frankfurt, dem Fürstentum Waldeck und dem Herzogtum Nassau werden zu einem Staatsgebilde mit Regierungssitz in Wiesbaden und den Regierungsbezirken Kassel, Wiesbaden und Darmstadt ungeachtet ihren jeweiligen kulturellen Ausrichtungen zusammengeführt.
Der heute irrtümlich als Hessisch verstandene Dialekt entspricht dem Sprachgebrauch des Südhessischen in der Metropolregion Rhein-Main. Ein neuzeitlicher rheinfränkischer Mischdialekt, der unter Dialektologen heute als „Neuhessisch“ bezeichnet wird als ein vergleichsweise moderner Regiolekt, dessen Einfluss gegenwärtig von Aschaffenburg bis Mainz und von Darmstadt bis in die Wetterau, in den Vogelsberg und in das Mittelhessische bis in den Raum Gießen mit rund 6,7 Millionen Menschen reicht, so die Statistik des Rhein-Main-Verkehrsverbundes. Ein Regiolekt, den Spötter als „RMV-Deutsch“ oder als „Bembel-Hessisch“bezeichnen.
Bembelhessisch macht Karriere
Bundesweit wird jedoch einzig dieser Dialekt als moderne städtische Ausgleichssprache durch Fernsehserien der Familie Hesselbach, durch Prunksitzungen zur Mainzer Fastnacht oder durch den Blauen Bock mit Heinz Schenk (1924 – 2014) und Lia Wöhr (1911 – 1994) populär. Schenk versteht es mit breitem Schlappmaul genial, den rheinhessischen Mainzer Dialekt („Roih-Hessisch“) als das „Hessische“ schlechthin zu verkaufen. Ein „weisch“ eingeschliffener „Medialekt“, den der gebürtige Friedberger und Wetterauer Wolf Schmidt (1913 – 1977) in seiner Rolle des „Babba Hesselbach“ als „Kompromisshessisch“ bezeichnet hat, um Irrtümern angesichts der Vielfalt der hessischen Dialekte vorzubeugen. Denn die Sprachräume in Hessen gliedern sich auf ungefähr vier Kernregionen mit angrenzenden Mischdialekten. Im Norden wird Niederdeutsch (Plattdeutsch) und Ostfälisch gesprochen, im Nordosten und in der Rhön Thüringisch sowie Osthessisch (Rhöner Platt) und Mainfränkisch. In Mittelhessen bestimmen Oberhessische Zungenschläge, im Süden rheinhessisch-fränkische Mäuler das Alltagsgeschehen mit Ausnahme der Odenwälder Landstriche (Ourewäller Platt).
Das Hinterländer Platt, eine nordwestliche Varietät des alten Oberhessischen mit noch unterschiedlichen Lautformen (Ortsdialekten), zählt noch zu den älteren Dialekten in Hessen, deren Strukturen teilweise noch aus dem Althochdeutschen ableitbar sind und deren Lautsystem mit dem Mittelhochdeutschen verbunden ist. Sie stehen im Kontext der zweiten Lautverschiebung, die das Mittelhochdeutsche vom Niederdeutschen (Plattdeutsch) trennt. Der für fremde Ohren noch eigentümlich klingende Hinterländer Dialekt gehört sprachgeschichtlich den westmitteldeutschen-fränkischen Sprachgruppen an, wobei dem Oberhessischen noch einmal eine besondere Stellung zukommt. Es bildet eine Brücke zwischen dem mittelhessischen rheinfränkischen Süden sowie dem niederhessischen und niederdeutschen Norden.
Mit der heimischen Industrialisierung durch die Buderus Dynastie und der Entwicklung des modernen Verkehrswesens (Eisenbahn) im Einzugsgebiet der Lahn mit der Folge der Überschreitung kleinräumiger, kultureller und territorialer Grenzen sowie der Verstädterung, der Bildungsreformen und des Aufkommens neuzeitlicher Medien (Zeitung, Kino, Rundfunk) unterliegen diese Hinterländer Dialekte dem Sprachgebrauch des Neuhochdeutschen mit ebenso vielfältigen Änderungen – wie auch in anderen Regionen -, insbesondere im Wortschatz (Lexikon), durch die Übernahme an Lehnwörtern sowie einem neuzeitlichen Bedeutungswandel, wobei die phonetischen Basisformen (Lautgestalten) beim Hinterländer Platt im Wesentlichen erhalten geblieben sind.
Demnach wird das stimmlose „s“ wird zu „sch“ verschliffen, das „r“ als retroflexes Zungen-„r“ ( mit der Zunge an den Gaumen gedrücktes gerolltes „r“ ) gesprochen. Zu den weiteren Besonderheiten gehört der Wandel der stimmlosen Laute „k“, „p“ und „t“ zu stimmhaften „g“, „b“ und „d“, sowie das Verschleifen des „er“ zu „a“ vor allem in der Endsilbe (Wetterau – Wearrera). Besonders auffällig sind die sogenannten gestürzten Diphtonge. Die mittelhochdeutschen fallenden Zwielaute „ie“, „üe“, und „uo“ erscheinen als steigende Zwielaute „äi“, „oi“ und „ou“. Alle Diphtonge werden eindeutig betont, so dass es nicht zu einer Verwechselung beispielsweise von „ai“ und „äi“ kommt. Der Laut zwischen „a“ und „o“ wird durch „oa“ realisiert. Der Buchstabe „v“ wird zum „w“ oder „f“ je nach dem Lautstand des Wortes (Vogel – Fuchel, Blumenvase – Bleammewase) und „äu“ und „eu“ wird zu „oi“ (Kräuter – Kroira, Leute – Loire), „ch“ wird zu „k“ oder zu „x“. Bei Eigennamen bleiben in der Regel die Standardformen der Schreibweisen bestehen.
Das verborgene Französisch
Eine besondere Bedeutung in der kulturellen Entwicklung Hessens kommt Ende des 17. Jahrhunderts mit dem Zuzug der aus Frankreich vertriebenen protestantischen Hugenotten und Waldensern zu. Hessen wird ein Einwanderungsland für religiös und politisch Verfolgte. Es kommt zu Neugründungen zahlreicher Städte und Siedlungen in den Provinzen Hessens. Aber noch prägender wird der französische Einfluss auf die Dialekte infolge der Französischen Revolution und des Machtstrebens Napoleons. Zahlreiche Lehnwörter und Redewendungen entlang den ehemaligen Rheinprovinzen (Rheinbundstaaten) bestimmen heute noch die Dialekte im Rheinland-Pfälzischen sowie im Südhessischen und Mittelhessischen.
Das „Schäszelong“ (Chaiselongue) oder die „Schossee“ (Chaussee) mit seinem „Schondärm“ (Gendarm) wie der Frankfurter Kleingarten als „Schardengsche“ (Jardin) mögen als Beispiele hierfür stehen, wenngleich der Ursprung des Gärtchens wiederum im Germanischen „garda“ zu finden sein soll, also ein schon mal durch das Hintertürchen geliehenes Lehnwort, das fröhlich durch die Mäuler spaziert wie selbstverständlich heute durch unseren „Goarde“ – sofern man noch einen besitzt und nicht seinen Urlaub am Gardasee verbringt. So dreht sich´s im Kreis! Wer indessen zu erotischen „Fisimatenten“ neigt, dürfte im Militärlager napoleonischer Besatzungssoldaten Anfang des 19. Jahrhunderts sein Vergnügen gefunden haben. „Visitez ma tente“ (besuche mein Zelt) sollte die eindeutige Aufforderung an junge Mädchen gelautet haben, denen der elterliche Rat mitgegeben war, nur keine „Fitzematenten“ zu machen, wenn auch die volkstümliche Ableitung nicht ganz den sprachwissenschaftlichen Deutungen entspricht, so doch das Schmunzeln erlaubt bleibt.
Jiddisch und Manisch
Will man einmal „Tacheles“ reden, stehen uns ebenfalls eine Fülle an Lehnwörtern aus dem Jiddischen zur Verfügung. Nach der „Maloche“ sollte beispielsweise keiner mehr unterhalb des Mindestlohnes „abgezockt“ werden, um nicht existenziell in der „Pleite“ zu landen. Ein „Schlamassel“, der dem „Großkotz“ fremd ist, schöpft er doch gerade seinen „Reibach“ da heraus, was der „ausgekochte“ Gewerkschaftler gar nicht „dufte“ findet und sich heute bis ins kleinste „Kaff“ herumgesprochen hat. „Mauscheln“ geht da nicht mehr, alles andere wäre „Stuss“, der aber genau den „Zoff und Zores“ der Politiker ausmacht, weshalb sie nach ihren Debatten so ziemlich „geschlaucht“ (erschöpft) aussehen.
Geradezu erfrischend in der regionalen Sprachgeschichte ist die Verknüpfung der mittelhessischen Dialekte mit Lehnwörtern aus dem Manischen, ein im Raum Gießen, Wetzlar und Marburg ausgestorbener Soziolekt. Wer zum Beispiel mit einer „schickeren Chefmoss“ beim „Pimpern“ in einer zwielichtigen „Katschemme“, einer „Schockelemaibaitz“, von einem „Schlawiner“ mit einem „Spannuckele“auf der Nase heimlich „ofgeluert“ wird, dem geht der Ruf des „Meckes“ nach, ein nicht zur Sippe gehörender und frecher Mensch zu sein. Das mag ein jeder „raffen“, so wie es einem „Spanner ogedäält“ist – oder auch nicht. Am Ende muss er sich selbst entspannen wie der Autor sich hier einer Übersetzung in aller Höflichkeit entzieht und uns lehrt: Es lebt ein jedes Maul zugleich im Geschwätz des Nachbarn auf – und davon – , wie sich die Mäuler einander begegnen und sich im Alltag verreißen. Oder – um es frei mit Johann Wolfgang Goethe zu sagen – brummt ein jeder Bär nach seiner Höhle, aus der er kommt, ungeachtet seiner stürmischen und drängenden Wetzlarer Leidenschaften.
Nach dem Ende des zweiten Weltkrieges und nach der Schreckensherrschaft und den Verbrechen der Nazis müssen allein in Hessen neben den Evakuierten aus den zerbombten Städten nahezu eine Million Menschen aus den ehemaligen Ostgebieten des in Trümmern untergegangenen Deutschen Reichs aufgenommen und integriert werden, insbesondere in Hessen aus den ost-, mittel- und südeuropäischen Ländern aus Ungarn, der Tschechoslowakei und des Sudetenlandes. Wenn auch die gemeinsame Standardsprache diese Integrationsleistungen befördert, so bleiben doch die jeweiligen Dialekte, die Lebensgewohnheiten und Bräuche der Heimatvertrieben in der ersten und zweiten Generation neben den alteingesessenen Varietäten als Identifikationsmerkmale auf dem Lande bestehen. Sie bilden in den Anfangsjahren der Bundesrepublik eigens errichtete Siedlungen und Parallelgesellschaften gegenüber den Alteingesessenen aus, nicht selten mit spannungsgeladenen Vorurteilen und Schmähungen.
Mit dem wirtschaftlichen Aufschwung der Bundesrepublik kommen Gastarbeiter mit ihren Sprachen, Lebensgewohnheiten und Dialekten nach Hessen. Deren Sprachkurs beginnt am Arbeitsplatz, beim Kollegen am Fließband, auf der Baustelle oder bei der Müllabfuhr. „Wasguggsdu?“, lautet die Antwort auf das Anderssein. Hochdeutsch wird dort nicht gesprochen. Sie waren und sind maßgebend an den Aufbauleistungen in Hessen beteiligt, insbesondere in den Metropolregionen Kassel, Gießen und Wetzlar, zu guter Letzt in Frankfurt, das sich aufgrund seiner zentralen Verkehrslage zu einem europäischen Wirtschaftsstandort und zur heutigen internationalen und multikulturellen Bankenmetropole entwickelt.
Entsprechend ist es 1989 politisch konsequent und bundesweit ein Novum, ein Amt für multikulturelle Angelegenheiten zu schaffen. Heute heißt der Hessische Minister für Wirtschaft, Energie, Verkehr und Landentwicklung Tarek Al-Wazir (Grüne), ein gebürtiger Offenbacher, zugleich Stellvertreter des Hessischen Ministerpräsidenten Volker Bouffier (CDU), alteingesessener Gießener mit französischem Namen, dessen sprachgeschichtliche Herkunft im Viehtreiben von Ochsen zum Metzger begründet sein soll.
Zwischen Sprachlabor und Sprachmuseum
Derzeit sind es die Anglizismen und die Sprache des Internets. Vermutet die Oma noch hinter einem „Browser“ im dialektalen Sprachwitz eine neue Duschvorrichtung im Bad, dürfte eine „Äpp“ ihr mehr Fragen eröffnen als sie „noch äbbes“ zu beantworten verspricht. Längst gehört das „Daunloare“einer „Wäbsaire“ zum dialektalen Wortschatz, sehr zum Leidwesen der Dialektpuristen, Heimat- und Brauchtumschützer, deren Bestreben im steten sozialen und kulturellen Wandel einer offenen Gesellschaft auf die Probe gestellt wird. In allen hessischen Kommunen bestehen heute neben der Standardsprache als Hauptsprache und den Dialektvarietäten verschiedene multikulturelle und bilinguale Sprachebenen, die im Sinne eines Code-Switchings die Alltagskommunikation bestimmen und kulturelle Identifikationsmerkmale aus übernommenen und neu hinzu gewonnenen Merkmalen und Werthaltungen am Beispiel des Neuhessischen der Metropolregion Rhein-Main im Alltag ausbilden.
Des Weiteren gehören heute Englisch und Französisch zum Schulstandard, werden Fremdsprachen im Urlaub erworben oder im internationalen Geschäfts- und Reiseverkehr vorausgesetzt. Zudem beherrschen Mode- und Jugendsprachen die Sprachebenen, wie ehedem in allen Sprachperioden Lehnwörter und Redewendungen die Mäuler bestimmt haben. Das oftmals Banale wird heute mit Fremdworten überdeckt und – insbesondere in der Werbung – als zusätzliches persönliches Identifikationsmerkmal und psychologisches Scharnier des Sozialprestiges aufgewertet. Aus dem Lebensmittelgeschäft wird ein „Fuud Zänter“ und aus dem Hausmeister ein „Fäzilliti Mänätscher“ – und aus der heimischen Mundartgruppe selbstredend ein „Daieläkt Tiim“ mit ortsansässigem „Daieläkt Kootsch“ und „Akkaunt Mänätscher“ für den Internetauftritt. Wer einmal versucht hat, im Umkehrschluss in einem Bettengeschäft eine moderne Heizdecke als einen „elektrischen Kolter“ zu erstehen, der dürfte spätestens beim Raumausstatter in sprachliche Nöte und ins Schlingern geraten, wenn er für seinen „Näabäa“ (Neubau) eine energiesparende Fußbodenheizung als „Biarrewärmer“ (Bodenwärmer) anschaffen will.
Eine stete Herausforderung für den, dessen traditionelle Sprachkultur jeweils auf das Neue an der Sprachwirklichkeit scheitert. Heute aus der romantischen Retrospektive eines Sprachmuseums „volkstümelnder Krähwinkelei und Sonntagsheimaten“ (Walter Jens) dennoch eine dialektale Leitkultur für morgen zu begründen, das ist mehr als nur ideologischer Mumpitz. Wer da heraus ein „Kulturerbe“ begründen will, der meint nichts anderes als einem populistischen Folklorismus als regressiver Reflex das Wort zu reden auf eine mal wieder aus den Fugen geratene Welt. Aber wer seine sprachliche Heimat „nur retrospektiv beschreiben kann, der hat sie schon aufgegeben“, sagt Klaus Klöckner, Frankfurter Germanist und Kulturwissenschaftler. Und wer die Zukunft aus dem Gestern heraus gestalten will, der kommt schon morgen mit klapperigen Knochen und alten Maulsperren daher. Eine solche Zukunft mit ideologischen Krücken zwischen saurem Wein und seifigem Handkäs braucht kein Mensch!
Titelbild: Menschen während der Frankfurter Buchmesse, bewusst verzerrt fotografiert von Kurt Werner Sänger. „Die Sprachen der ganzen Welt , Internationale Buchmesse Frankfurt“, schreibt er zu seinem Foto.
Ein Gedanke zu „Dialekte“