Lob den Querdenkern
Als „kreative Störenfriede“ bezeichnet der Bad Nauheimer Publizist Walter Simon Querdenker und nennt als Beispiele Galileo Galilei und Rudolf Diesel. Unternehmer sollten sich die positive Wirkung dieser unangepassten Geister sichern und in Projekte einbinden, „damit sie querdenken und produktive Unruhe in die Organisation bringen“. Der Wirtschaftstrainer und -referent denkt selbst gerne nonkonform. Das zeigt sein neues Buch „Arbeitswelt 4.0“. Er hat es dem in der Türkei inhaftierten Journalisten Deniz Yücel und seiner Familie gewidmet, mit der er seit langem befreundet ist.
Neofeudale Ungleichheit
Walter Simon untersucht auf 150 Seiten die wirtschaftliche Entwicklung und ihre Auswirkungen auf die Arbeitswelt. Er stellt eine „neofeudale Ungleichheit“ fest: Bei den ärmsten 10 Prozent der Haushalte schlagen Lohneinbußen am stärksten zu Buche, so dass sogar die deutsche Bundesbank 2014 hohe Tarifabschlüsse empfahl. Während die Normalverdiener ein Jahreseinkommen. Von 32.500 Euro erzielen, sind es bei einem Fünftel der Berufstätigen nur 16.000 Euro, weniger als der EU-Durchschnitt. Man kann also von einer Verarmung der Armen sprechen und weniger vom Reicherwerden der Normalverdiener.“ Diese Ungleichheit „drückt das Wirtschaftswachstum, die Produktivität und Nachfrage, wirkt negativ auf das Bildungsniveau und die Gesundheit, spaltet die Gesellschaft und führt über die Resignation zum Ausstieg aus dem demokratischen Gesellschaftsgefüge“.
Die Zukunft der Gewerkschaften, die gegensteuern könnten, sieht Simon düster. Die künftige Arbeitnehmergeneration komme nicht mehr aus dem gewerkschaftsnahen Arbeitermilieu, sondern aus Angestelltenfamilien, die nicht in den Gewerkschaften verwurzelt seien. „Daraus resultieren Einbrüche bei den Beitragseinnahmen, die im Personalabbau hauptamtlicher Funktionäre münden. Die aber sind notwendig, um Betreuungs- und Beratungsleistungen aufrechtzuerhalten und neue Mitglieder zu werben. Dieser eigendynamische Teufelskreis ist wohl kaum noch aufzuhalten“ meint Simon und bedauert diesen Prozess: „Darüber kann sich niemand freuen, denn die Arbeitnehmerorganisationen waren stets ein Fortschrittsmotor deutscher Industriegeschichte. Ihr Absterben würde eine schwer auffüllbare Lücke hinterlassen.“
Der Griff nach der Seele
Eine tiefe Abneigung hegt der Wirtschaftstrainer gegen den Trend zur „spirituellen Tiefenerfahrung im Arbeitsalltag“, den er bei vielen Unternehmensberatern festgestellt hat. Sogar die Wirtschaftsförderung seines Heimartkreises, also des Wetteraukreises, habe eine Wanderung auf dem Jakobsweg exklusiv für Unternehmer angeboten. „Vielleicht hat es den Geist der Teilnehmer ‚gereinigt‘, die Produktivität ihrer Unternehmen gefördert“ höhnt er und stellt fest: „Wir sind Zeugen der Abkehr von Wissenschaftlichkeit und Vernunft und erleben den Griff nach der Seele. Sie soll den Anforderungen des Marktes entsprechend gestaltet werden.“ In der Zunft der Personalentwickler seien „Leute am Werk, die das Rollback der Aufklärung betreiben.“
Aber Aufklärer haben auch Konjunktur. Der Antikapitalismus wird wieder hoffähig, hat Simon bemerkt, und führt unter anderem die Demonstration 2015 vor der Europäischen Zentralbank in Frankfurt gegen den „Zockerkapitalismus“ an. Im Interesse seines Überlebens müsse sich der Kapitalismus „immer wieder neu häuten und sein Human Recources Management entsprechend nachölen“. Er brauche gesamtgesellschaftliche Akzeptanz und „vor allem das mentale OK der werte- und wissenproduzierenden Akteure der Digitalgesellschaft“. Der „Kapitalismus 3.0“ stehe auf der Tagesordnung.
Der Schnelle frist den Langsamen
Der Wandel der Arbeitswelt durch digitale Techniken nimmt in dem Buch breiten Raum ein. „Die Liste der Tätigkeiten, in den Maschinen besser sind als Menschen, wird immer länger“, schreibt er. Und: „Das Internet ist die Turbokraft, die den Lebens- und Wirtschaftsprozess beschleunigt. Es verkürzt den ‚Time-to-market-Prozesse‘ und setzt so den Rhythmus unserer Wirtschaft unter Geschwindigkeitsdruck. Inzwischen frisst nicht mehr der Große den Kleinen, sondern der Schnelle den Langsamen.“ Den Videokanal Youtube im Internet hält er für eine vorzügliche Fernschule. „lernhungrige können sich quasi ‚in der ersten Reihe sitzend‘ Vorträge von Nobelpreisträgern ansehen oder die gespeicherte Hochschulvorlesung einer Elite-Universität anklicken.“ So könne sich jetzt auch „der Landwirt in der Uckermark an langen Winterabenden onlinebasiert weiterbilden, ohne zeitraubende Anfahrtswege in Kauf nehmen zu müssen“.
Das Buch ist eine Sammlung der Kolumnen, die Simon seit 2013 monatlich für das Online-Fachmagazin für Management und Organisation business-wissen.de schreibt. Gewidmet hat er es dem in der Türkei inhaftierten Journalisten Deniz Yücel und seiner Familie. Vor allem mit dem Vater verbindet ihn eine seit 30 Jahren währende Freundschaft. „Man kennt und schätzt sich aus gemeinsamer gewerkschaftlicher Arbeit in Flörsheim am Main während er 1980er Jahre“, so Simon. Durch seine Eltern habe Deniz „Mut, Verstand und sein soziales Gewissen“ erhalten.
Walter Simon: Arbeitwelt 4.0 – Einblicke und Ausblicke, Amazon, 150 Seiten, 10 Euro, ISBN: 978-1533549037