„Man wird nicht immer für voll genommen“
Als Rollstuhlfahrerin lebt sie eine Etage tiefer als ihre Mitmenschen, sagt Cornelia Polz aus Rendel. Nicht nur hohe Bordsteine – auch die Unsicherheit der Nichtbehinderten machen ihr und den Schicksalsgenossen das Leben schwerer als nötig. Die frühere Fitnesstrainerin nimmt das nicht einfach hin. Als Behindertenbeauftragte der Stadt Karben vertritt sie die Interessen von knapp einem Zehntel der Bevölkerung. Im Gespräch mit Landbote-Redakteur Klaus Nissengeht es um Ängste, praktische Alltagsprobleme und die Frage, wie man im Rollstuhl von A nach B kommt.Barrierefreiheit ist noch nicht erreicht
In Deutschland haben laut Statistischem Bundesamt 9,4 Prozent der Bevölkerung eine Schwerbehinderung. Auf die 23 000 Karbener umgerechnet sind das mindestens 2000 Menschen. Bei etwa jedem fünften von ihnen ist die Funktion von Armen, Beinen oder Wirbelsäule beeinträchtigt. Das dürfte in Karben auf etwa 400 Menschen zutreffen.
Cornelia Polz ist eine von ihnen. Die 1968 geborene Rendelerin ist erst als Erwachsene mit den Problemen konfrontiert worden, die Menschen mit Einschränkungen bewältigen müssen. Sie arbeitete nach einer Lehre als Verkäuferin in einer Firma als Projektmanagerin.Anschließend absolvierte sie eine psychologische Ausbildung, eröffnete eine Therapeuten-Praxis. „Dann ist mein Mann schwer krank geworden. Das war eine Zäsur, die auch dazu führte, dass ich beruflich umsattelte und Trainerin in einem Sportstudio wurde“. Eine Krankheit zwang sie, diesen Beruf aufzugeben. Seit 2019 sitzt sie im Rollstuhl.
Als erste ehrenamtliche Behindertenbeauftragte kümmert sich Cornelia Polz nun mit ihrem Stellvertreter Marc Griffiths (38) um die Belange von Menschen mit Einschränkungen. Sie berät sie in persönlichen und rechtlichen Angelegenheiten, stellt Kontake zur Stadtverwaltung her, hilft beim Formulieren von Anträgen. Vor Baumaßnahmen im öffentlichen Raum achtet Polz darauf, dass es möglichst barrierefreie Zugänge gibt.
Es fehlen Behindertenbeauftragte
Frau Polz, Sie sind seit 2022 die erste ehrenamtliche Behindertenbeauftragte der Stadt Karben. Haben Sie Kolleginnen oder Kollegen in anderen Städten und Gemeinden?
Es sind nicht viele. Ich weiß, dass es dieses Amt in Bad Vilbel und Schöneck gibt. In Altenstadt und Limeshain, aber noch nicht in der Kreisstadt Friedberg. In Bad Nauheim, wo viele Menschen mit Behinderungen leben, gibt es eine Inklusionsbeauftragte.
Woran liegt das? Der Sozialverband VdK Hessen-Thüringen fordert seit Jahren, dass das Amt der kommunalen Behindertenbeauftragten in jeder Gemeinde und jeder Stadt geschaffen wird.
Ich möchte da nicht spekulieren. Auf jeden Fall halte ich es für sinnvoll, dass überall jemand die Interessen und die speziellen Probleme der Menschen mit Behinderungen wahrnimmt. Und gemeinsam mit der Verwaltung nach Lösungen sucht.
Bei den meisten Sitzungen der Stadtverordneten sind Sie oder Ihr Stellvertreter Mark Griffiths im Rollstuhl am Tisch zu sehen. Sie haben Rederecht und halten öffentliche Sprechstunden ab. Wo und wann?
Wir sind an jedem Dienstag zwischen 9 und 12 Uhr in der Rendeler Bücherei an der Klein Karbener Straße 1 erreichbar.
Wie kamen Sie zu Ihrem Amt?
Daheim in Rendel und an anderen Stellen in Karben kam ich mit dem Rollstuhl einfach nicht weiter. Es ging um zu hohe Bordsteine und ähnliches. Da habe ich Fragen an die Kommune gestellt. Die wurden schnell aufgegriffen – innerhalb von vier Wochen waren alle meine Wünsche erfüllt. Das war toll. Es ermutigte mich, für die Stadt als Ansprechpartnerin und Beraterin von Menschen mit Behinderung zu arbeiten. Es muss sich ja nicht jeder so wie ich mühsam erarbeiten, wie man einen Grad der Behinderung beantragt oder einenPflegegrad. Oder wie man einen Fahrdienst findet, wenn man ihn braucht.
Sie sind seit 2019 auf den Rollstuhl angewiesen. Wie ist es, täglich mit diesem Gefährt zu leben?
Es ist eine ganz andere Welt. Früher ging ich krankheitsbedingt mit dem Rollator durch die Welt. Aber jetzt lebe ich als Rollstuhlfahrerin eine Etage tiefer als die anderen Menschen. Buchstäblich, aber auch im übertragenen Sinn.
Was meinen Sie damit?
Wenn ich mit meinem Mann unterwegs bin und Bekannte treffe, dann reden die mit meinem Mann. Ich sitze eine Etage tiefer. Für manche Menschen ist die körperliche Einschränkung auch ein Zeichen für geistige Defizite. Man wird nicht immer für voll genommen.
Spielt dabei die Scheu eine Rolle? Ich weiß auch nicht genau, wie ich jemanden im Rollstuhl über eine Treppenstufe bugsiere und habe dann Angst, etwas falsch zu machen.
Mag sein. Ein Freund sagte mir einmal: Ich ertrage es nicht, Dich so zu sehen. Und dann machte er sich rar. Toll, dass er so ehrlich war. Es bleibt der Fakt: Viele „normale“ Menschen gehen einem lieber aus dem Weg.
Würden Sie sich mehr Hilfsbereitschaft von den Mitmenschen wünschen?
Die gibt es schon. Wenn ich im Supermarkt jemanden bitte, mir eine Dose von einem hohen Regal zu holen, dann schlägt er mir den Wunsch nicht ab. Vor allem wünsche ich mir aber, dass wir Rollifahrer so angenommen werden, wie wir sind. Dass man keine Angst vor uns hat.
Sie sprechen von Rollstuhlfahrern. Haben sich auch Karbener mit Sehstörungen oder Spracheinschrängungen bei Ihnen gemeldet?
Bisher leider nicht. Für die sind Mark und ich natürlich auch da.
Mit welchen Problemen kommen die Menschen in den Sprechstunden zu Ihnen?
Meistens geht es um Formulare. Es kommen auch viele, die dringend Hilfe im Haushalt brauchen. Wer pflegebedürftig ist, findet relativ leicht jemanden, der mal eine Besorgung macht oder einem etwas vorliest. Aber wer wischt gerne freiwillig in der Wohnung eines Rollstuhlfahrers den Fußboden? Das kann der nicht so gut alleine. Da suchen wir immer Leute, finden aber nicht genug.
Und wie ist es mit den hohen Bordsteinen und den abschüssigen Gehwegen in Karben? Können sie die alle für Rollis befahrbar machen?
Natürlich nicht. Wir können ja keine Häuser einreißen, um den Bürgersteig zu verbreitern. Wir müssen erst mal mit den Gegebenheiten zurechtkommen. Und notfalls versuchen, über einen Umweg ans Ziel zu kommen.
Sollte man nicht noch stärker die Stadt umbauen, damit sich jeder sicher darin bewegen kann?
Es passiert ja schon eine Menge. Und wenn es teuer ist, beantragen wir Zuschüsse vom Land.
Nennen Sie ein paar Beispiele.
Der Friedhof in Kloppenheim ist nicht zugänglich für Rollstuhlfahrer. Man muss über die Bundesstraße fahren, um an den Hintereingang zu kommen. Und vorne ist eine marode alte Treppe.. Da wird jetzt eine Rampe gebaut. Am Friedhof in Petterweil werden breite Auto-Stellplätze angelegt und die Wege neu gemacht. Auf unser Drängen hat auch Hessen Mobil akzeptiert, dass wir an der Einmündung des Radweges von Petterweil auf die B3 eine Bedarfsampel brauchen, damit Rollis und Radfahrer sicher über Bundesstraße kommen. Dafür gab es dann auch Geld vom Land Hessen.
Gibt es denn in Karben noch Stellen, die für Menschen mit Behinderung unerreichbar sind?
Natürlich. Versuchen Sie mal, im Rollstuhl auf den Mittelbahnsteig des Bahnhofs von Groß-Karben zu kommen. Die Bahnhöfe zwischen Dortelweil und Friedberg sollen ja Aufzüge bekommen, wenn die zusätzlichen Gleise für die S6 verlegt werden. Ich hoffe, dass ich das noch erlebe.
Wie bewegen Sie sich jetzt über mehrere Kilometer? Beispielsweise vom Rathaus heim nach Rendel?
Es gibt zum Glück den Sprinter des Vereins „Herz und Hand“ hier in Karben. Den kann ich anrufen. Er hat am Heck eine Hebebühne, die mich ins Fahrzeug bringt. Wir suchen übrigens dringend ehrenamtliche Fahrerinnen und Fahrer. Wer Interesse hat, kann sich gerne bei mir melden. Die Bedienung ist einfach, und die Einsätze kosten auch nicht viel Zeit.