Goddelaus Schatz
Von Corinna Willführ und Bruno Rieb
Goddelau, nicht etwa Darmstadt, ist die Geburtsstadt von Georg Büchner. In der Weidstraße 9 des Riedstädter Ortsteils im Südhessischen steht das Geburtshaus des Schriftstellers, Wissenschaftlers und Revolutionärs. Die Gemeinde feiert ihren berühmten Bürger mit einem schmucken Museum, das von einem Förderverein betrieben wird. Der Landbote hat sich die Ausstellung über sein großes Vorbild angeschaut.Gut zwei Jahre lebten die Büchners mit ihrem Sohn in der Wohnung, die nicht mehr als ein Zimmer mit Kammer war. Als sich weiterer Nachwuchs ankündigte, zogen die Büchners in die nahe Hospitalgasse um. Ende 1816 verließt die Familie Goddelau.
Weil Büchners „dichterische Arbeit erst mit dem Verfassen von ‚Dantons Tod‘ begann, sein freigeistiges, revolutionäres Denken erst mit der Schulzeit ansetzt, wird Büchner von vielen immer noch als ‚Darmstädter‘ angesehen. Selbst auf seinem Grabmal in Zürich ist diese historisch falsche Angabe nachzulesen“, beklagt der Vorsitzende des Fördervereins Büchnerhaus Werner Amend in einer 2012 erschienen Bröschüre.
Georg und seine Geschwister
Es hat aber auch eine Weile gedauert, bis die Goddelauer bemerkten, welches Genie in dem Haus in der Weidstraße das Licht der Welt erblickt hatte. Georg habe in Goddelau lange als der „missratene Sohn“ der angesehenen Arztfamilie gegolten, erzählte Dirk Wenner, selbst eingeborener Goddelauer, der die Landbote-Delegation durch das Museum führte.
In dem Anwesen in der Weidstraße wird der berühmte Goddelauer nun ausführlich gewürdigt. Aber nicht nur er. Auch über die Eltern und die Geschwister erfährt man viel. Wenner erzählte den Familienmythos, dass es Georgs Bruder Wilhelm war, der seinem revolutionären Bruder die entscheidendes Frist zur Flucht vor der Polizei verschaffte.
Es war auch nicht so, dass die fünf Geschwister Mathilde, Wilhelm, Luise, Ludwig und Alexander um den genialen Georg kreisten wie die Planeten um die Sonne. Georg, am 17. Oktober 1813 geboren, war bereits mit 23 Jahren am 19. Februar 1837 im Exil in Zürich gestorben. Berühmt wurde er mit einiger Verzögerung erst posthum. Das Lustspiel „Leonce und Lena“ wurde 1895 uraufgeführt, das Drama „Dantons Tod“ 1902 und „Woyzek“ erst 1913 im Residenztheater in München uraufgeführt, Danton 1902. Für manchen mag unerwartet sein, was sich im Museum über die Familie Büchner und die Lebensläufe seiner Geschwister entdecken lässt, etwa zu Wilhelm Büchner, seinem drei Jahre jüngeren Bruder, und Alexander, dem jüngsten Spross des Medizinalrats Ernst Karl Büchner und seiner Ehefrau Caroline Louise Büchner, gebürtige Reuß.
Ein „bisher unveröffentlichtes Dokument der außergewöhnlichen Beziehung unter den fünf Geschwistern Büchner“ legte der Magistrat der Stadt Pfungstadt in 2010 vor: Die Publikation „Mein Bruder Wilhelm ‚Der dumme Bub“ nach dem handschriftlichen Original im ‚Depositum Wilhelm Büchner‘, einer Sammlung von Dokumenten, Bildern und Briefen der Familie. Auf 20 handschriftlich durchnummerierten Seiten beschreibt darin Georg Büchners Bruder Alexander (1827-1904) in Ausschnitten die Familienverhältnisse aus seiner Sicht. Äußerungen, die er seiner zweiten Ehefrau Martha Balsen diktierte und die Peter Brunner transkribiert und herausgegeben hat. Peter Brunner ist Leiter des Georg-Büchner-Hauses. Er schreibt im Vorwort: „Der Text überzeugt vor allem durch seine Unmittelbarkeit. ….. Als ein Dokument tiefer und ernsthafter Geschwisterliebe dagegen, als wirklicher Versuch, einem geschätzten Verwandten ein Denkmal zu errichten ist er fast ohne literarisches Beispiel.“
Geschwisterliebe, dokumentiert in einem Schulheft
Als Peter Brunner gemeinsam mit der Leiterin des Pfungstädter städtischen Archivs, Stephanie Goethals, 2008 die ungeordnete Sammlung von Dokumenten der Familie Büchner sichtete, entdeckten sie darunter ein „Schulheft von 20 handschriftlichen Seiten.“ Verfasser: Alexander Büchner. „Zur Zeit der Abfassung war Alexander Büchner schon der letzte Überlebende der Geschwisterreihe“, der einzige der das 20. Jahrhundert erlebte. Alexander Büchner starb 1904. Der „Doktor der Rechte“ hatte 42 Jahre seines Lebens in Frankreich verbracht und war dort unter anderem Mitte der 1850er Jahre Deutsch- und Englischlehrer an einer Privatschule. Der polyglotte Hesse publizierte unter anderem Arbeiten zur „Geschichte der englischen Poesie“ und die biographische Novelle „Byron’s letzte Liebe“. 1870 wurde Alexander Büchner in Frankreich „eingebürgert“, 1871 erhielt er einen Lehrstuhl.
Vorausgegangen war der Sichtung des „Depositum Wilhelm Büchner“ das Ende der Sanierungsarbeiten an der Villa von Wilhelm Büchner in Pfungstadt. Wie Peter Brunner schreibt, besteht „Das Material aus Teilen der Hinterlassenschaft von Wilhelm Büchners Enkel Anton Büchner. Der Eigentümer, sein Enkel Manfred Büchner, hatte das Konvolut zunächst der Georg-Büchner-Forschungsstätte in Marburg“ überlassen. Heute befindet es sich im Stadtarchiv Pfungstadt.
Wer war Wilhelm Büchner?
Wilhelm Büchner verließ die Schule mit 15 Jahren. Mitnichten legte er sich auf „die faule Haut“. Vielmehr besuchte er gemäß seinem Wunsch, Apotheker zu werden, Anfang der 1830er Jahre Kurse für Physik, Chemie am Landwirtschaftlichen Institut in Darmstadt und begann in der Zwingenberger Hofapotheke bei Dr. Ferdinand Winckler seine Apothekerlehre mit erfolgreichem Abschluss Ende 1834.
„Im Jahre 1816 geboren, war derselbe mit 15 Jahren ein hübscher anstellig gross-gewachsener Bursch, dem man wohl einige Jahre mehr gegeben hätte“, heißt es in der Transkription des Originals. So zweifelten die Häscher, die nach Georg Büchner suchten, auch nicht daran, dass er vor ihnen stand, als ein Polizist Wilhelm im Hausflur traf und die Frage, ob er der „junge Büchner sei“ mit „Jawohl“ beantwortete. „Dann müssen Sie mir ins Arresthaus folgen“, sagte der Polizist. „Mit tausend Freuden“ war die Antwort „lassen Sie mich nur erst meinen Anzug in Ordnung bringen.“ Es klärte sich, dass Wilhelm nicht Georg war – ein Aufschub für den Gesuchten war erreicht. „Heißen Sie denn nicht mit Ihrem Vornamen Georg?“, heißt es in dem Text. „Nein, ich heiße Wilhelm oder auch der dumme Bub.“ Und weiter: „Und studieren nicht Medicin?“ „Nein, ich bin Apothekerlehrling“, „Aber wo ist Ihr älterer Bruder?“ „Wo er jetzt ist, das weiß ich nicht, aber ich habe sagen hören, er sei seit einigen Tagen verreist.“ Indes wusste Wilhelm Büchner wohl, dass sein älterer Bruder „in der Nacht zuvor das Weite gesucht hatte“ und er ihm mit seiner Aussage auf der Polizeiwache einen kleinen Aufschub bei seiner Flucht ins französische Straßburg verschafft hatte.
Der „dumme Bub“ legte, auch ohne Griechisch und Latein, wie sein Bruder Alexander wissen lässt, ein „brillantes Gehilfenexamen“ ab. So schickte ihn der Vater Ernst Karl Büchner auf die damalige Landesuniversität Gießen, „wo er alsbald eine der Stützen des gerade aufblühenden Liebigschen Laboratiums wurde & die Chemie eifrig betrieb.“ Zurück in Darmstadt, wo die Familie Büchner seit 1816 lebte, „verfiel er in ein schweres Nervenfieber“. Alexander Büchner: „Im Augenblick der schwersten Krisis wurden wir jüngeren Geschwister zu Wilhelm geführt, um ihn noch einmal zu sehen. Ich werde nie den geisterhaften Ausdruck seines schönen, aber gänzlich entstellten Kopfes vergessen, welcher durch die Blutegel sozusagen tätowiert war.“
Entdecker des künstlichen Ultramarin
Wilhelm Büchner überlebt die schwere Krankheit und wird Mitinitiator des Gewerbevereins in Darmstadt. Und er landet einen Clou: „Eines Morgens gelingt ihm die freudige Überraschung, beim Aufbruch eines Ofens den grünen Kalk in eine Substanz von tiefblauer, ins rötliche spielender Farbe verwandelt zu sehen.“ Alexander Büchner: „Diese leicht zerbröckelnde & mit äußerst geringen Kosten herzustellende Materie war das kostbare Ultramarin“ – und damit Wilhelm Büchner der Erfinder eines begehrten Farbstoffs. Für ihn war dies der Beginn seiner Laufbahn als „Fabricant de Bleu“ und für die Region eines enormen Aufstiegs – zu ihrem Höhepunkt Mitte der 1850er Jahre mit rund 100 Arbeitern in der „Blofawrik“. So war der „dumme Bub“ zum erfolgreichen Unternehmer avanciert, in dessen Pfungstäder Fabrik als bekanntestes Erzeugnis das „Waschblau“ erzeugt wurde.
„Nun erhoben sich riesige Fabrikschornsteine zu einer im Lande noch unerreichten Höhe, Dampfmaschinen unterstützten die Wasserkraft, & die schlichte Landbevölkerung gab gute Arbeiter“, vermerkt Alexander Büchner. Und auch, dass „mein Bruder schon gleich im Anfang die vielberühmten Verbesserungen im Loose der Arbeiter mit Gewinnanteil & Unfall- wie Altersversicherung aus eigener Initiative einführte, lange bevor die Herren Lassalle + Schulze-Delitsch & andere Nationalökonomen ihre goldenen Berge am Horizont des Proletariats schimmern ließen.“
Mitte des 19. Jahrhunderts war die Fabrik nicht nur „das einträglichste Geschäft im ganzen Großherzogtum“, sondern die „WB-Produkte“ auch international erfolgreich: So auf der Weltausstellung in London (1851) und in Paris (1855). Dem vorausgegangen war allerdings: ein drohendes Gelddesaster, das der wohl vom Rheinwein trunkene Wilhelm, der laut Bruder Alexander einen „überlustigen Gesellen“ gab, „beichtete“. Allein: Dieses konnte abgewendet werden, wobei der „dumme Bub“, der sich in seinem Beruf als Chemiker und Erfinder bewährt hatte, auch zeigte, dass er über kaufmännischen Verstand verfügte. Und Dank der Heirat mit der Tochter eines vermögenden Arztes aus dem holländischen Gouda auch über die nötigen Mittel, um Schlimmes von der Firma abzuwenden.
Der erfolgreiche Geschäftsmann
„Die politischen Erschütterungen von 1848 thaten dem Betrieb keinen wesentlichen Schaden, obwohl sich mein Bruder als eifriger Einheitsdemokrat aufspielte“, so Alexander Büchner. 1848: Im Revolutionsjahr war ihr Bruder Georg bereits elf Jahre tot. Wilhelm Büchner, der erfolgreiche Geschäftsmann, der sich in Pfungstadt ein „großes Wohnhaus oder – wie die Franzosen sagen würden Chateau“ erbaut hatte, war u.a. Abgeordneter im Hessischen Landtag, trat für die unabhängigen Wahlen der Bürgermeister ein und setzte sich Mitte der 1880er Jahre für einen Anschluss Pfungstadts an die Eisenbahn an. „Somit hatte der „dumme Bub“ seine studiert habenden Zeitgenossen, sowie seine gelehrten Brüder in Ansehen & Wohlhabenheit weit überflügelt & bewiesen, dass strenge Rechtlichkeit Arbeitsmut wie Intelligenz auch noch heutzutage zu den höchsten Zielen führen können.“
Wilhelm Büchner, der ob seiner Erfindung und Vermarktung des künstlich hergestellten Ultramarins international „Fabricant de Bleu“ und in seiner Heimat „Blaumüller“ genannt wurde, starb 1892, „nachdem sich der ‚dumme Bub‘ im Laufe der Zeit als bunter Schmetterling entpuppt (hatte) und seiner Familie wie dem ganzen Lande zur höchsten Zierde (Ehre) gereicht hatte.“
Ein Raum des Museums ist dem „Hessischen Landboten“ gewidmet, der Protestschrift die Georg Büchner mit dem Butzbacher Pfarrer und Lehrer Ludwig Weidig verfasst hat. Während Büchner die Flucht gelang, wurde Weidig verhaftet und starb nach zwei Jahren unter mysteriösen Umständen im Kerker in Darmstadt.
Im Hof des Büchner-Hauses steht übrigens ein Motivwagen, der zum 200. Jubiläum der Hessischen Verfassung von 1820 gebaut worden ist, aber bislang wegen Corona nicht zum Einsatz kam. Er zeigt Großherzog Ludwig I. von Hessen, der mit der Verfassung in der Hand auf einem geplagten Bürger sitzt, der geknebelt ist. Besser als mit diesem Motiv kann die Botschaft, die Büchner und Weidig mit dem Hessischen Landboten verbreiten wollen, kaum veranschaulicht werden.
Titelbild: Das Büchnerhaus in Goddelau. (Foto: Rieb)