Kolonialgeschichte

Gießen und Marburg forschen gemeinsam

Das Oberhessische Museum Gießen und die Ethnographische Sammlung der Marburger Philipps-Universität Marburg forschen gemeinsam. Dabei geht es um die Herkunft völkerkundlicher Sammlungen und Kolonialismus.

Museum als Ort der Forschung

Die beiden Institutionen in Gießen und Marburg erhalten eine Projektförderung des Deutschen Zentrums Kulturgutverluste für die gemeinsame Erforschung der Ethnographischen Sammlungen und der Kolonialgeschichte Mittelhessens, wird in einer Pressemitteilung der Stadt Gießen angekündigt. Unter dem Titel „Provenienzen ethnographischer Objekten in Mittelhessen“ vergleichen die beiden Institutionen ihre Objektgeschichten. Ausgewählte Sammlungskonvolute der Ethnographischen Sammlung des Oberhessischen Museums Gießen und der Ethnographischen Sammlung der Marburger Phillips-Universität werden in den Fokus gerückt.

Der ethnographische Bestand des Gießener Museums ist nahezu unerforscht; allerdings haben sich in der Vorbereitung einer ersten Ausstellung 2019 Verknüpfungen mit der Marburger Sammlung aufgetan. Das Forschungsprojekt untersucht nun an Hand von Sammlerpersönlichkeiten und Forscherbiographien Parallelen im Bestand der beiden Sammlungen aus den Bereichen Kamerun und Tansania. Zentral ist der Austausch mit den Herkunftsgesellschaften über die Objekte, so dass erstmals koloniale Verflechtungen Mittelhessens offengelegt werden könnten. 

Oberhessisches Museum Gießen. (Foros: Schmidt)

Finanziert wird das mittelhessische Forschungsprojekt mit rund 120.000 Euro durch eine Förderung des Deutschen Zentrums Kulturgutverluste. Das Zentrum unterstützt in der ersten Förderrunde 2020 insgesamt fünf Projekte mit rund 650.000 Euro.  
Das Deutsche Zentrum Kulturgutverluste in Magdeburg ist national und international der zentrale Ansprechpartner zu allen Fragen unrechtmäßig entzogenen Kulturgutes. Seit Januar 2019, als das Deutsche Zentrum Kulturgutverluste aufgrund eines Fördermandats des Stiftungsrats um einen Fachbereich für koloniale Kontexte erweitert wurde, ist es möglich, die Förderung von Projekten zu beantragen, die sich mit Kultur- und Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten befassen.
Gießens Oberbürgermeisterin Dietlind Grabe-Bolz zeigt sich begeistert von der Förderung: „Erstmals kann sich das Oberhessische Museum wirklich als Ort der Forschung positionieren. Das Forschen gehört schließlich zu einer der fünf zentralen Aufgaben eines Museums neben dem Sammeln, Ausstellen, Vermitteln und dem Bewahren. Im Arbeitsalltag kann dieser Aufgabe manchmal nicht ausreichend nachgekommen werden, deshalb ist dieses Förderprojekt, das uns in der Provenienzforschung unterstützt eine großartige Bereicherung.“  
Kuratorin Dr. Dagmar Schweitzer de Palacios, Sammlungsleiter Prof. Ernst Halbmayer (Marburg) und Museumsleiterin Dr. Katharina Weick-Joch (Gießen) betonen die Relevanz der Zusammenarbeit in der Region. Die Kooperation ähnlich gearteter Sammlungen kann für die Objektforschung der eigenen Institution nutzbar gemacht werden. Der Ansatz, Aufgaben zu bündeln und gemeinsam zu erfüllen, stärkt und erweitert die Position beider Standorte, gleichzeitig werden Grundstrukturen für weitere Vorhaben gelegt. Im Ergebnis führt das Projekt zu einer Verdichtung von Kenntnissen historischer Ereignisse, die auf die Gegenwart übertragen werden.

Essschale, Herkunft Kamerun, Oberhessisches Museum Gießen. (Foto: Stadt Gießen)

Koloniale Verflechtungen Mittelhessens

Warum geht es bei dem Forschungsprojekt? Die Kooperation beider Institutionen stellt eine Verknüpfung der Wissenschaftsgeschichte beider Städte und darüber hinausgehend der kolonialen Verflechtungen in Mittelhessen dar. Eine umfassende Erforschung und wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Thematik ist für diese Region bisher fast nicht vorhanden.
Die beiden Ethnographischen Sammlungen weisen historische Verknüpfungen auf; so können im Rahmen des Projekts die Entstehungen und Entwicklungen dieser Sammlungen mit ethnographischen Objekten untersucht werden. Insbesondere die Überschneidung von Personen und Sammlern auf universitärer Ebene, die möglicherweise an beiden Sammlungen mitgewirkt haben, und die Übereinstimmung bestimmter Herkunftskontexte der Objekte versprechen Forschungspotenzial.
Vorgesehen ist die Aufarbeitung von Objekten aus Herkunftskontexten, die in beiden Sammlungen vertreten sind und nachweislich aus kolonialen Kontexten des heutigen Kamerun und Tansania stammen. Das Projekt ist zunächst auf zwölf Monate angelegt, um Verdachtsmomente aufzuspüren, Verbindungen beider Sammlungen zu benennen und die Zusammenarbeit mit den Herkunftsgesellschaften weiter zu konkretisieren.

Im Zuge der Ausstellung „Wieso? Weshalb? Warum? Fragen an die Ethnographische Sammlung“ (Laufzeit 8.11.2019-26.1.2020) konnte das Oberhessische Museum erste Erfahrungen im Bereich der Herkunftsforschung zu Objekten aus kolonialen Kontexten sammeln.
Die Expertise und die Erfahrungswerte der Ethnographischen Sammlung der Philipps-Universität-Marburg ermöglichen es dem Oberhessische Museum Gießen, diese Forschung konstruktiv und im Austausch durchführen zu können und Wissenschaftler*innen und Vertreter*innen der source communities mit einzubinden.
Die Ethnographische Sammlung der Philipps-Universität-Marburg wurde in den späten 1920er Jahren  gegründet, noch bevor es einen Lehrstuhl für Völkerkunde (jetzt Kultur- und Sozialanthropologie) gab. Seit ihrem Bestehen bildeten ihre Objekte Thema von Seminaren und Vorlesungen. Diese behandeln heute aktuelle Themen und Debatten zu Museen und Sammlungen, ebenso wie beispielsweise Objektanalyse –  zudem finden Ausstellungsprojekte unter Einbeziehung von Studierenden statt. Soweit die Pressemitteilung der Stadt Gießen.

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