Tyll Ulenspiegel
von Michael Schlag
Ist Ihnen das auch schon passiert? Man hat ein Buch angefangen und schon nach fünfzig Seiten wusste man, dass einen dieses Buch jetzt nicht mehr loslässt. Nach der Hälfte fängt man an, langsamer zu lesen, damit man länger davon hat und ganz zum Schluss – in diesem Fall auf Seite 474 – ist man etwas traurig, dass es zu Ende ist, gerne hätte man immer noch mehr erfahren. So ein Buch ist der Roman „Tyll“ von Daniel Kehlmann.
Gaukler im Krieg
Ein Buch über einen Spaßmacher im Dreißigjährigen Krieg, ausgerechnet, in einer Zeit, wo die Menschen wirklich nichts zu lachen hatten. Eine Welt voll unsagbarer Härte, die Menschen ohne Erbarmen, ständig vom Tod bedroht. Ein Leben zählt gar nichts, ein Mord für ein Paar Stiefel, niemandem kann man trauen. Kinder sterben früh, und wenn nicht, dann müssen sie arbeiten, treiben auch derbe Späße, werden dafür halb totgeschlagen. Die Inquisition verängstigt und vergiftet ganze Dörfer, treibt die Menschen zum Verrat an ihren nächsten Angehörigen. In der größten Not halten sie sich an absurden Aberglauben.
Ohne Angst durch grauenhafte Zeit
Aber mit Tyll Ulenspiegel kann einem nichts passieren, er geht ganz ohne Scheu und sicher durch diese Welt, ist als Gaukler bei den großen Ereignissen mittendrin. Bei der Schlacht von Zusmarshausen, bei der schwedischen Belagerung von Brünn, beim Winterkönig in Prag, vor Magdeburg und schließlich auch in Osnabrück. Tyll Ulenspiegel ist ohne Angst, kommt immer irgendwie heil heraus und wir als Leser gottlob auch – sei es beim tausendfachen Schießen und Stechen einer Schlacht, sei es bei den Intrigen an den Höfen, wo irgendjemand immer den Krieg wieder anfacht, weil er sich doch noch einen Vorteil davon erhofft. Gut und flüssig lesbar wird das alles erzählt, und Daniel Kehlmann gelingt das Kunststück, dass man nie den Überblick verliert in diesen drei Jahrzehnten kreuz und quer durch Europa. Zugegeben, hin und wieder mal bei Wikipedia nachgeschaut, wann und wo sich eine Geschichte genau zugetragen hat (also wo der Roman sie spielen lässt) und am Ende fügt sich alles zu einem schlüssigen Bild zusammen, wie man es vom 30-jährigen Krieg noch nicht bekommen hat. Die Niedertracht der Herrschenden, die entsetzliche Verrohung der Menschen, die ewige Angst vor der Religion. Tyll von Daniel Kehlmann – ganz große Erzählkunst, unbedingt lesen.
Verlag: Rowohlt 2017
ISBN 978-3-499-26808-3
Gebunden 22,95, Taschenbuch 16 €, E-Book 9,99
Leseprobe:
https://www.book2look.com/book/9783499268083
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