Willi Jasper und der gläserne Sarg
Spätestens 1968 verliebten sich die deutschen Studenten in die (Kultur-)Revolution. In diesem Jahr ist Goldene Hochzeit und es werden Berge von Erinnerungsliteratur produziert, auch wenn die Liebe in all den Ehejahen auf der Srecke gelieben ist. Willi Jaspers Rückblick gehört zu den schönsten. Er besinnt sich auf seine Zeit als Funktionär der maoistischen Studentenpartei KPD. Er kann gut erzählen und er hat viel erfahren, das es Wert ist, niedergeschrieben zu werden. Er blickt er in seinem Buch „Der gläserne Sarg“ über sich selbst erstaunt auf die „deutsche Kulturrevolution“ zurück.
Ganz großes Theater
Die von Studenten gegründete KPD inszenierte sich als Arbeiterpartei wie ihre Namensvetterin in den 1920er Jahren. Während diese tatsächlich Arbeitermassen auf die Straße bringen konnte, lebte jene von der Illusion davon. „Ob Maidemonstrationen, ‚antiimperialistische‘ Solidaritätsbekundungen, Streikunterstützungen oder Wahlkämpfe – alle diese Aktionen wurden wie ‚revolutionäres‘ Theater inszeniert. So präsentierte die ‚KPD‘ sich im März 1975 für die Westberliner Abgeordnetenhauswahlen unter der Losung: „Keine Stimme den Ausbeuterparteien. Für ein vereintes Berlin in einem vereinigten sozialistischen Deutschland. Die Arbeiterklasse an die Macht“, schreibt Jasper, Jahrgang 1945, der 1970 zum Gründerkreis der KPD gehörte. „Unter den Kandidaten waren auch echte Schauspieler wie der Schaubühnen-Mime Michael König, der im bürgerlichen Zehlendorf als ‚Betriebsrat der ÖTV‘ um Wählerstimmen warb – oder professionelle Laiendarsteller wie der Ex-Kommunarde Dieter Kunzelmann, der als ‚politischer Gefangener‘ in Reinickendorf auf der Liste stand“, schreibt Jasper.
Die Übermacht der Germanisten
Es waren aber keine professionellen Schauspieler oder professionelle Laiendarsteller, die die Partei als mit dem Zusatz „Aufbauorganisation“ (AO) ins Leben gerufen hatten, sondern vor allem Studenten der deutschen Sprach- und Literaturwissenschaft. „Noch nie war meines Wissens eine deutsche Partei durch eine solche Übermacht von Germanisten gegründet worden“, zitiert Jasper den Schriftsteller Peter Schneider. Jasper, der später bis 2010 Professor für deutsch-jüdische Literatur- und Kulturgeschichte an der Universität Potsdam war, gehörte selbst zu den Germanistikstudenten unter den Parteigründern. Er erzählt von der Entstehung der Roten Zelle Germanistik an Freien Universität Berlin, die Keimzelle der KPD-Aufbauorganisation (KPD/AO) war, die bald auf das AO verzichtete: „Anlässlich der geplanten Verabschiedung der Notstandsgesetze im Mai 1968 hatte sich eine beachtliche Zahl von Studenten zur ‚Ad-hoc-Gruppe Notsand der Germanistik‘, dem Vorläufer der ‚Roten Zelle‘, zusammengeschlossen und rief zur Besetzung des Instituts auf. Die Begründung war aber nicht nur ein Protest gegen die ‚NS-Gesetze‘ (so die polemische Abkürzung), sondern richtete sich generell gegen die Germanistik. Sie lehre ‚das Interesse an der Literatur als Desinteresse an der Gesellschaft‘ und unterwerfe ‚zur sinnlosen Prozedur die Interpretation von Literatur als unendliche Aufgabe zu beschreiben.“
Geballe intellektuelle Potenz
Die Kulturrevolution im fernen China beeindruckte viele Studenten in West-Deutschland, darunter auch den Germanistikstudenten Willi Jasper. Warum? Es gibt viele Versuche, diese Frage zu beantworten, meist ist es beim Versuch geblieben. Jasper zitiert den Welt-Korrespondenten Alan Posener, der Jahrzehnte beschrieben hat, dass es eher zufällig war, dass er zur KPD/AO stieß: „Ich hatte, um irgendetwas zu studieren, mich für Germanistik eingeschrieben, und in der ‚Roten Zelle Germanistik‘ gaben die Vertreter der KPD/AO den Ton an. Das meiste, was sie sagten, verstand ich allenfalls umrisshaft, aber ich habe sie als Personen bewundert: Dietrich Kreidt, Helmut Lethen und Rüdiger Safranski zu Beispiel, aber auch Lerke von Saalfeld, Beate von Werner und vor allem Elisabeth Weber. Da war schon eine geballte intellektuelle Potenz. Ich glaube, dass es den meisten jüngeren Studenten damals so ging: die Entscheidung für eine ideologische Organisation war eher eine persönliche als eine politische Entscheidung. Man entschied sich, zu wem man gehören wollte, und eignete sich danach die politische Linie an.“
Weitermachen
Jasper beklagt, es gebe nur wenige „authentische Beispiele der erzählenden und reflektierenden Erinnerung an den kulturrevolutionären Neuanfang in Deutschland“. Sein Buch gehört zu den wenigen. Er beschreibt, wie die Studenten in Bewegung kamen, an China glaubten und die Revolution in Deutschland inszenieren wollten. Mehr noch beschreibt er die Phase der Ernüchterung. Es hätten sich „viele von uns damaligen Protagonisten“ noch lange gescheut, „darüber im großen Stil zu berichten, da uns die Geschichte zu peinlich war und ‚subjektive‘ Zeitzeugen als ‚geborene Feinde‘ der ‚objektiven‘ Historiker galten“, schreibt Jasper, der einen Hang dazu hat, Worte in Anführungszeichen zu setzen.
Als Mitglied einer Delegation der KPD stand Jasper im Oktober 1977 in Peking am Glassarg von Mao Tsedong. „Ein Märchen der Gebrüder Grimm, das von einem tapferen Schneiderlein und der Erlösung handelt, heißt ‚Der gläserne Sarg‘“, lautet der erste Satz des Buches. Die Delegation legte einen Kranz nieder. Er habe sich zwar wie ein tapferer Gesell gefühlt, aber nicht an die Erlösung gedacht. „Dabei hätten meine ‚Genossen‘ und ich ihrer dringend bedurft, denn wir glaubten an die Propagandamärchen von Mos ‚Kulturrevolution‘“, schreibt der Ex-KPD-Funktionär.
Das Buch endet mit den Sätzen: „Vielleicht sind noch nicht alle aufklärerischen Ideale im Mausoleum vermodert, sondern können – wie in Grimms Märchen – aus dem gläsernen Sarg befreit werden. Schließlich trägt ja auch Herbert Marcuses Grabstein auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof in Berlin die Inschrift: ‚Weitermachen.‘“
Waren gute Erfahrungen