Wie ein Tsunami
Sonntagmorgens, nach dem Frühstück, ist der Gang vor die Haustür fällig. Wie üblich, liegt das Werbeblatt schon da. Und wie immer sind die Werbebeilagen so dick, dass der Papierwust nicht durch den Kastenschlitz passt. Der verrückte sonntägliche Werbe-Tsunami erregt unchristliche Gefühle in mir, zumal ich auch an den übrigen Wochentagen in Werbung ertrinke. Einmal wog ich die sonntäglichen Grüße von Rewe, real, klein-expert und Kollegen: Gut 600 Gramm! Immer neu werden Schnitzel, Joghurt, Bananen, Handys oder Rasenmäher angepriesen. Ende August nun brachte mir die Post einen Ikea-Katalog ins Haus, der mit seinen 332 Seiten die Stärke eines Buches hat. Als ich erfuhr, dass er in einer Auflage von 203 Millionen gedruckt wurde, ging mir der Hut endgültig hoch.
203 Millionen Auflage
Diese Menge würde aneinandergereiht ein Regalbrett von 4000 Kilometer füllen. Außer mir wurden 30 Millionen deutschsprachige Haushalte ‚beglückt‘, die restlichen 173 Millionen gingen, übersetzt, in alle Welt. Ikea lobt sich selbst: „Das auflagenstärkste Buch der Welt“ wird in 52 Ländern verteilt. Soweit ich weiß, wird Papier aus Bäumen gemacht oder mit hohem Energieaufwand aus Altpapier recycelt. Etwa 20 % des weltweit eingeschlagenen Holzes werden denn auch zu Papier verarbeitet. Für die Herstellung von 1 Kilo Papier werden 2,5 KWh Strom benötigt. Die Papierherstellung verbraucht überdies viel Wasser, heute immer noch, trotz mehrmaliger Wiederverwendung des Wassers. Und nicht zu vergessen sind die eingesetzten Chemikalien für das Entfärben des Altpapiers und andere Produktionsschritte. Da ist es Augenwischerei, wenn Ikea sogar noch Nachhaltigkeit für sich reklamiert. Das Buch sei auf FSC-Mix-Credit-Papier gedruckt und recycelbar. Wer weiß schon, dass es zwischen FSC und FSC-Mix einen Unterschied gibt, denn hier dürfen auch nichtzertifizierte Hölzer verwendet werden Auch sonst wird etlichemal auf die schonende Behandlung der Umwelt hingewiesen, das gehört sich heute eben und kommt bei der Zielgruppe gut an.
Blick durchs Schlüsselloch
Die Zielgruppe, das sind junge Familien, deren Sprösslinge munter durch die kleine Wohnung toben. Oder auf einem Schemel stehend Zähne putzen im Bad, in dem dank Ikea genug Platz ist für mehrere Familienmitglieder. Die Eltern sind keine Mannequins, sondern „normal“ dicke Menschen, natürlich immer gut gelaunt. Die Zimmer sind nicht aufgeräumt, sondern in einer sympathischen Unordnung. Die Farben sind warm, aber nicht grell. Hier lebt man eben, zieht sich von des Tages Stress zurück und macht die Tür zu. Natürlich ist die kleine Wohnung individuell eingerichtet, Ikea machts möglich. Dass Ikea längst stilbildend wirkt und nur eine Pseudoindividualität zulässt, übersieht man gerne. Ach ja, wer schon älter ist, darf sich selbstverständlich auch zur „Ikea-Family“ zählen. Dafür sorgt schon das Du, mit dem der Katalog seine LeserInnen anredet.
Werbung wirkt
Werbung heute appelliert an unser Unbewusstes, an unsere geheimen Wünsche. So identifizieren wir vielleicht die abgebildeten engen Zimmer als Höhle oder gar als Mutterleib, in dem es uns gutging. Wir kaufen die angepriesenen Waren, um die unbewussten Wünsche zu befriedigen. Aber das funktioniert nicht, es ist ja eine Ersatzbefriedigung. Und so kaufen wir immer neu, we can get no satisfaction. Ich habe beileibe nichts gegen Bücher. Aber die sollten nicht zum Konsumieren erziehen. Die Lebenszeit ist zu kurz, um sie mit dem Ansehen von Werbung und dem unaufhörlichen Kaufen zu verbringen, vielleicht gar noch am Sonntag. Shopping gehen finden zwar manche chic, aber auch das hat uns die Werbung eingetrichtert.