Partnerschaft ausgebaut
Straßenzüge in Trümmern, brennende Gebäude nach Raketeneinschlägen, totes Vieh auf der Weide – es waren bedrückende Bilder, die die Gäste aus der Ukraine in die Gießener Kreisverwaltung mitgebracht hatten, um sie als Teil einer Präsentation in der Sitzung des Haupt- und Finanzausschusses zu zeigen. Zum ersten Mal hat eine Delegation aus dem Rajon Tschernihiw den Landkreis Gießen besucht.Unterstützung beim Wiederaufbau
Seit vergangenem Jahr verbindet beide eine Solidaritätspartnerschaft. Nun haben Landrätin Anita Schneider und Tetiana Kuznetsova, Leiterin des Bezirksrates von Tschernihiw, eine Partnerschaftsvereinbarung unterzeichnet, berichtet die Pressestelle des Landkreises Gießen. Die Vereinbarung bekundet den Willen, aus der Solidaritätspartnerschaft, die zunächst die Unterstützung beim Wiederaufbau vorsieht, später eine dauerhafte kommunale Partnerschaft wachsen zu lassen.
Vereinbarung unterzeichnet
„Unser Treffen war intensiv in jeder Hinsicht“, so beschreibt Landrätin Anita Schneider die Bilanz des einwöchigen Besuchs der ukrainischen Partner: „Wir konnten viel voneinander erfahren, wir haben aus erster Hand gehört, unter welch drastischen Bedingungen Menschen im Alltag im Rajon Tschernihiw leben. Und zugleich haben wir unsere Gäste sehr persönlich und menschlich kennengelernt. Trotz ihrer Situation haben sie eine große Herzlichkeit mitgebracht. Das macht Mut und ich wünsche mir, dass dieses erste Treffen Auftakt einer intensiven Partnerschaft ist.“
Großer Wunsch nach Frieden
Tetiana Kuznetsova äußerte vor allem große Dankbarkeit: „Danke, dass Sie uns unterstützen. Danke, dass wir bei Ihnen sein konnten. Wir haben uns für einen europäischen Weg entschieden und ich wünsche mir, dass auch Sie bald in Frieden bei uns zu Gast sein können.“
Diesen Wunsch bestätigt die Vereinbarung, die am Abschluss des Besuchs stand: Sie sieht nicht nur eine Zusammenarbeit in den Bereichen Wirtschaft, Landwirtschaft, Energieversorgung, Soziales, Gesundheit, Bildung, Wissenschaft und Kultur vor – beide Partner verpflichten sich darin auch, sich für Kontakte der Zivilgesellschaft einzusetzen.
Viele Kindergärten im Rajon zerstört
Rund 400.000 Menschen lebten vor dem russischen Angriffskrieg im Rajon Tschernihiw mit der gleichnamigen Hochschulstadt im Zentrum. Eine reiche Natur, Landwirtschaft und eine lange Geschichte prägen die Region nah der russischen und belarussischen Grenze. Seit dem Beginn des Angriffs durch Russland geht es im Alltag für die Menschen ums Überleben, wie Tetiana Kuznetsova sowie die weiteren Mitglieder der Gruppe berichteten, die nach einer langen Reise per Bahn und Auto in den Landkreis Gießen gekommen waren. Allein 47 Kindergärten und 50 medizinische Einrichtungen seien durch russische Angriffe zerstört worden, dazu unzählige Wohnungen und große Teile der Infrastruktur.
Einblicke in medizinische Versorgung
Neben der Leiterin des Bezirksrates gehörten Lesja Maltseva, Leiterin Angelegenheiten der Exekutive, Serhii Harus, Vorsitzender des Gemeinderats von Ripkyne, und Hryhorii Tkachenko, Mitglied des Gebietsrates von Tschernihiw und Abgeordneter im ukrainischen Parlament, zu der Besuchsgruppe. Im Gespräch mit Landrätin Anita Schneider, Kreistagsvorsitzendem Claus Spandau und Mitarbeitenden der Verwaltung lernten die ukrainischen Gäste den Aufbau der Kommunalverwaltung und die demokratischen Strukturen im Landkreis Gießen kennen.
Die Besuchstage waren geprägt von vielen Begegnungen, um Unterstützungsmöglichkeiten für den Rajon Tschernihiw zu beraten, um Akteure zu vernetzen und den Gästen Einblicke zu geben, die als Impulse für den Wiederaufbau dienen können. Derzeit allerdings halten die russischen Angriffe an, technische und medizinische Ausstattung, Einsatzfahrzeuge und Notstromaggregate sind die nötigsten Hilfen.
Ein Besuch des neuen Gefahrenabwehrzentrums stand ebenso auf dem Plan wie eine Vorstellung der ZAUG gGmbH, die im Auftrag des Landkreises viele Initiativen in der Berufsvorbereitung und Qualifizierung geflüchteter Menschen umsetzt. Die Medizinische Versorgung stand im Mittelpunkt bei Einblicken im Universitätsklinikum und im Agaplesion Evangelischen Krankenhaus. In Gesprächen mit Mitgliedern des Kreisausländerbeirates und ukrainischen Organisationen erfuhr die Delegation von der Situation geflüchteter Menschen im Landkreis.
Informationen über Direktvermarktung
Wie landwirtschaftliche Direktvermarktung funktioniert, erlebten die ukrainischen Gäste während eines Besuchs in Pohlheim auf dem Hof Obersteinberg von Familie Fay. Hier werden Produkte aus eigener Erzeugung – von Fleisch und Eiern bis zu Kartoffeln – im eigenen Hofladen vermarktet. Auch geschlachtet wird direkt auf dem Hof. Für Delegationsmitglied Hryhorii Tkachenko, der in seiner Heimat selbst einen großen Agrarbetrieb leitet, war dies ein beeindruckendes Beispiel für lokale Wertschöpfung.
Aber auch die kulturelle Seite des Gießener Landes kam während des Besuches nicht zu kurz. Weite Ausblicke bot der Blick von der Burg Gleiberg, Ruhemomente im Grünen der Gail‘sche Park in Rodheim. Und die Trachtenpuppensammlung des Pohlheimer Heimatmuseums ist nun um eine ukrainische Trachtenpuppe reicher – als Gastgeschenk der Freunde aus Tschernihiw.
Titelbild: Ein herzliches Willkommen und offizielle Begrüßung für die Delegation aus der Ukraine in der Sitzung des Haupt- und Finanzausschusses: (v. l.) Ausschussvorsitzender Norbert Weigelt, hauptamtlicher Kreisbeigeordneter Frank Ide, Landrätin Anita Schneider, Hryhorii Tkachenko (Mitglied des Gebietsrates von Tschernihiw), Tetiana Kuznetsova (Leiterin des Bezirksrates von Tschernihiw), Serhii Harus (Vorsitzender des Gemeinderats von Ripkyne), Lesja Maltseva (Leiterin Angelegenheiten der Exekutive), hauptamtlicher Beigeordneter Christian Zuckermann, Erster Kreisbeigeordneter Christopher Lipp und Kreistagsvorsitzender Claus Spandau. (Fotos: Landkreis Gießen)