Ukraine-Buch

Aus dem Nebel des Krieges

Von Michael Schlag

Welche Zukunft wird es für die Ukraine geben, wo sollen die Menschen und die Kräfte herkommen, wenn das Land eines Tages „Aus dem Nebel des Krieges“ wieder heraus kann? In dem aktuellen Buch mit diesem Titel schreiben ukrainische Wissenschaftler, Künstler, Schriftsteller und Journalisten, alle im Alter von Mitte Dreißig bis Anfang Vierzig.

Tag eins der Invasion

Es ist die Generation Maidan, die 2013 von einer freien Gesellschaft als Teil Europas träumte und die den russlandtreuen Herrscher Janukowitsch ins Exil nach Moskau trieb. Und deren Träume von einer freien Ukraine Russland mit der Besetzung der Krim 2014, dem Krieg im Donbass und jetzt dem Angriff auf das ganze Land beantwortet wurden.

Kateryna Mishchenko (geb. 1984), Verlegerin in Kyjiw, erinnert sich an Tag Eins der Invasion, „an die zitternden Hände der Verkäuferin in der Zoohandlung, es gibt keine Katzentransportboxen, heute kommen wahrscheinlich auch keine mehr“, und an Verwandte, die zur Identifizierung von Toten eigene DNA-Proben abgeben. Oksana Karpovych (geb. 1990), Dokumentarfilmerin aus Kyjiw, berichtet von ihren Filmaufnahmen vor einem Jahr: „Die Frauen aus Tschernihiw schrien durch unsere Kamera in die ganze Welt hinaus, wohl wissend, dass diese dumme Welt, dieses schwachköpfige Europa, das sie da anschreien, ihre Sprache nicht versteht.“ Manchmal bestehe Sprache nur aus Fetzen, aber wie solle man die Zerstörung auch in wohlgesetzten Worten beschreiben. Sie selbst habe den Gedanken akzeptiert, dass es auch sie überall und jederzeit treffen kann – das Leben in der Ukraine ist eine Lotterie geworden.

Der Schriftsteller und Journalist Artem Chapeye (geb. 1981) meldete sich im Februar 2022 als Soldat zur ukrainischen Armee und versuchte, „meinem Kind zu erklären, dass es sich ganz, ganz selten, vielleicht einmal im Leben, und selbst das nicht bei jedem, ergibt, dass man genau das tut, was man tun sollte. Weil es einfach nicht anders geht.“ Und erzählt, wie er und seine Frau als linke Idealisten aufgewachsen sind; in ihrer Jugend ging es viel um ethische Kategorien und Reflexionen über Gerechtigkeit, gar um Tattoos mit ökologischen und sozialen Motiven, doch „auf einmal bist du mit einer so realen, abgründigen Ungerechtigkeit konfrontiert.“ Dieses Böse lässt sich ganz klar benennen: „Wenn mitten in der Nacht Zivilisten bombardiert werden. Wenn es die eigenen Kinder treffen kann. Wenn das mit Absicht geschieht. Ich hielt mich für einen Pazifisten. Aber wenn man seine Kinder unter Bombenlärm weckt, hat das alles keine Relevanz mehr.“ Hunderttausende trafen dieselbe Entscheidung wie er: zu kämpfen, statt wegzulaufen, doch Artem Chapeye weist jedes Heldentum von sich: „Wir sind keine ‚Krieger des Lichts‘, sondern ganz gewöhnliche Menschen mit all ihren Unzulänglichkeiten. Wir kämpfen für ein gewöhnliches, unvollkommenes Leben, zu dem ich einfach nur zurückkehren möchte.“

Wenn der Nebel des Kriegs sich einmal lichtet

Es ist ein Buch über die Verteidigung, aber vor allem handelt es von den Menschen, die eines Tages „Aus dem Nebel des Krieges“ wieder eine ukrainische Zivilgesellschaft aufbauen werden. Angelina Kariakina (geb. 1985) leitet die Nachrichtenredaktion des öffentlich-rechtlichen Senders Suspilne in Kyjiw und arbeitet im Projekt „The Reckoning Project – Ukraine Testifies“. Mariupol wurde aus der Luft, vom Meer und von Artilleriestellungen aus bombardiert, „die Stadt mit einer Bevölkerung von fast einer halben Million Einwohnern wurde mit einem solchen Hass verbrannt, als sollte an ihr ganz besonders grausam Rache genommen werden“, schreibt Angelina Kariakina. Und dann gibt sie wieder, was der Soldat Mischa sagte, als er zusammen mit 215 Gefangenen des Asow-Regiments bei einem Austausch aus russischer Gefangenschaft freikommt. Was wünscht man sich in dem Moment? Mischa: „Für die Zukunft, für diejenigen, die die Gefangenen abholen werden: Sie brauchen etwas Süßes. Eine gute Zigarette, einen Kaffee oder eine Pepsi“. Einige der ganz kleinen Freuden eines gewöhnlichen Lebens, wenn der Nebel des Krieges sich einmal lichten wird.

Und die Menschen brauchen noch etwas: Kultur. Die Kuratorin Kateryna Iakovlenko kehrt nach Irpin in ihre zerbombte Wohnung zurück und verwandelt sie zusammen mit befreundeten Künstlern in eine Installation. „Für einen Tag werden meine leeren Backsteinwände, die kaputte Decke und der mit Wachstuch bedeckte Boden zu einem Ausstellungsraum für zeitgenössische Kunst“, schreibt Kateryna Iakovlenko, denn „wir müssen uns schon jetzt ein Leben vorstellen, das aus der Asche entsteht.“

Stanislaw Assejew (geb. 1989) berichtete unter Pseudonym ab 2015 für ukrainische Medien aus dem besetzten Donbas. Im Juni 2017 wurde er von Kämpfern der sogenannten Volksrepublik Donezk verschleppt und zwei Jahre im Donezker Foltergefängnis Isoljazija festgehalten. „Den meisten war nicht bekannt, dass Russland bereits vor acht Jahren in Donezk einen Ort etabliert hat, dessen Namen die Einwohner kaum auszusprechen wagen“ – die Isoljazija auf dem Gelände einer früheren Fabrik für Isoliermaterial, deshalb der Name. Dabei wurde die Fabrik am Hellen Weg 11 in Donezk nach ihrer Stilllegung zunächst als Kulturzentrum genutzt, noch während des Euromaidan 2014 fanden hier Installationen, Kunstprojekte und Diskussionsveranstaltungen statt. Am 9. Juni 2014 – nach Beginn der von Moskau geführten Geheimdienstaktion – wurde die Isoljazija von Separatisten gestürmt. „Dieses russische KZ existiert bis auf den heutigen Tag. Acht Jahre lang hat sich die internationale Öffentlichkeit dafür nicht interessiert.“ Nach zwei Jahren Haft bei einem Gefangenenaustausch freigekommen, sagt Stanislaw Assejew: „Jeder Vorschlag, einen Teil des ukrainischen Staatsgebiets Russland zu überlassen, um den Krieg schneller zu beenden, läuft nicht auf einen politischen Deal hinaus, sondern auf ein Versagen unserer gesamten Zivilisation.“ Denn auf jedem Quadratmeter Boden, den man an Russland abträte, würde ein totalitäres Regime errichtet.

Im Zentrum von Europas Interesse

Fast zwei Jahre nach seiner Befreiung erfuhr Stanislaw Assejew, dass der Kommandant der Isoljazija seit Frühjahr 2019 unbehelligt in Kyjiw lebte. Wie reagiert man, wenn man so etwas erfährt? Darin liege die Antwort auf das kollektive Trauma, das die ukrainische Bevölkerung zurzeit erleidet. Mit Hilfe des Recherchenetzwerks Bellingcat gelang es ihm, den ehemaligen Kommandanten aufzuspüren, worauf ihn der ukrainische Geheimdienst in Kyjiw verhaftete. Es war der Beginn des Justice Initiative Fund (JIF). Doch wie soll man Kriegsverbrecher festsetzen, wenn sie sich nicht in der Ukraine aufhalten? Israelische Dienste hätten nach dem Zweiten Weltkrieg in der ganzen Welt Naziverbrecher aufgespürt. Russische Verbrecher würden aber niemals in Argentinien oder Paris auftauchen, sondern nach dem Krieg nach Russland zurückkehren. Das Ziel des JIF dennoch: dem Bösen einen Namen geben „und diese Leute werden als Kriegsverbrecher in die Geschichte eingehen, auch für ihre eigenen Familien“.

„Zeitenwende“ war das Wort des 24. Februar 2022. Der Begriff ist eigentlich ein Echo – hier klingt verkehrt etwas zurück, was man gut 30 Jahre zuvor „Wendezeit“ nannte. Der ganze friedliche Annäherungsprozess von damals zerbricht. Für die Ukraine der Zukunft bedeutet es aber auch einen Perspektivwechsel. Ein Land, das bislang eher als russischer Hinterhof wahrgenommen wurde, ist ins Zentrum von Europas Interesse gerückt.

„Aus dem Nebel des Krieges – Die Gegenwart der Ukraine“, edition suhrkamp, 2023, 240 Seiten, 20 Euro, ISBN 978-3-518-02982-4

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