Nie wieder Auge um Auge
von Ursula Wöll
Am 10. Oktober 2016 ist der Welttag gegen die Todesstrafe. Landbote-Autorin Ursula Wöll denkt an ihren Brieffreund Arthur, der in eines Todeszelle in den USA sitzt.
„Sad Smile“
Ein Sommertag, wie er im Buch steht. Ich denke an meinen Brieffreund Arthur, der all diese Pracht der Natur nicht genießen kann. Seit vielen Jahren sitzt er in der Todeszelle einer texanischen Death Row. Am 10. Oktober steht der „Welttag gegen die Todesstrafe“ an, der auch vom Europarat zum „Europäischen Tag gegen die Todesstrafe“ erklärt wurde. Also zwinge ich mich, etwas zum schrecklichen Thema „Todesstrafe“ zu schreiben.
Arthur hat sich in all den Jahren in der Todeszelle zu einer intellektuellen und sensiblen Persönlichkeit entwickelt. Nach dem jahrelangen Briefwechsel mit ihm bin ich überzeugt, dass er ein „wertvolles“ Mitglied der Gesellschaft abgeben würde, ließe man ihn frei. Wie hält man all die Jahre auf wenigen Quadratmetern aus? Für mich unbegreiflich, dass Arthur nur selten depressive Anwandlungen preisgibt, er setzt dann in Klammern die Bemerkung „Sad Smile“ hinter den einen und anderen Satz. Zu meinem kürzlichen Geburtstag bekam ich von ihm einen langen Brief und sechs Tage hintereinander jeweils eine bunte Briefkarte mit Wünschen. Zum Ausgleich dafür, dass er nicht persönlich mitfeiern konnte. Das tat mir gut. Nebenbei bemerkt müssen ihn die schönen Karten viel Geld gekostet haben, denn alles ist in dem ihm zugänglichen Kiosk überteuert. Ja, er ist nun einfühlsam und achtsam gegenüber anderen, manche/r meiner hiesigen Bekannten könnte sich an ihm ein Schnippchen abschneiden. Das ihm zur Last gelegte Verbrechen geschah in seinen jungen Jahren, in einem anderen Leben sozusagen.
Die Angst des Verurteilten
Arthur ist Afroamerikaner, wie überdurchschnittlich viele der unzähligen Gefangenen in US-Gefängnissen. Sie sind arm, können sich nur weniger eloquente Anwälte leisten und hatten meist eine chaotische Kindheit mit einer oft überforderten Mutter. Als Victor Hugo 1829 seine Erzählung „Der letzte Tag eines Verurteilten“ veröffentlichte, war das schon genauso. Hugo schrieb ein eindringliches Plädoyer gegen die Todesstrafe, indem er die Angst des Verurteilten in seinen letzten Lebenswochen und -stunden nachzuvollziehen versucht. Er lässt den Unglücklichen, der die Zeit nicht anhalten kann, in einem Monolog die letzten 6 Wochen in der Bicètre, dann den Transport zur Concierergie und zum Place Grève mit der Guillotine durchleben. Ich zitiere, leicht gekürzt, den Bericht eines Zellenkameraden dieses Verurteilten:
„Mit sechs Jahren hatte ich weder Vater noch Mutter. Im Sommer schlug ich am Rande der staubigen Straßen Rad, damit man mir einen Sou zuwarf. Im Winter lief ich barfuß und blies in meine roten Hände. Mit neun Jahren fing ich an, mich durch meiner Hände Arbeit zu ernähren. Ich leerte eine Tasche, ich stahl einen Mantel. Mit zehn Jahren war ich ein fertiger Spitzbube und mit 17 Jahren ein Meister vom Fach. Dann 15 Jahre Bagno, das nimmt mit. Dann war ich 32, und man gab mir eines Morgens mein Marschpapier und 66 Franken, den Gegenwert für 16 Stunden Arbeit täglich. Jetzt wollte ich mit meinen 66 Franken ein guter Mensch werden, die Gefühle unter meinen Lumpen waren tatsächlich schöner als die eines Pfaffen. Aber der Teufel saß in dem Pass. Er war gelb, und man hatte hineingeschrieben: ‚Entlassener Sträfling‘. Ich verbreitete Furcht um mich, man verschloss die Türen. Niemand wollte mir Arbeit geben. So verzehrte ich meine 66 Franken. Ich musste aber auch nachher leben……..Es bedarf keiner großen Phantasie, um das Ende auf der Guillotine vorauszusehen.
Strafe war weiterhin Rache
Die Guillotine passte ins angehende bürgerliche Zeitalter. Sie arbeitete schnell, effizient und tötete „humaner“. Zuvor waren die qualvollsten Methoden üblich, aber auch sie durch einen ordentlichen Urteilsspruch angeordnet. Michel Foucault hat die Hinrichtung des Vatermörders Damien von 1757 so anschaulich in der Einleitung seines Buchs „Überwachen und Strafen “ beschrieben, dass sich einem der Magen umdreht. Mittelalter war da längst vorbei. Etwa zur gleichen Zeit, 1764, entstand eine Abhandlung, die sich erstmals klar gegen die Todesstrafe als solche aussprach. Die Schrift „Über Verbrechen und Strafe“ des Italieners Cesare Beccaria erregte etliches Aufsehen und wurde bald in mehrere Sprachen übersetzt. Aber praktisch änderte sich wenig, trotz Aufklärung mit ihrem schärferen Blick für die Freuden und Leiden des Individuums. Strafe war weiterhin Rache, war Vergeltung. So sehen wir sie insgeheim immer noch, wenn wir ehrlich sind.
Beccaria legte nicht nur die heute sattsam bekannte Tatsache dar, dass die Todesstrafe keine abschreckende Wirkung hat. Er arbeitete ihre verheerende Wirkung auf das Klima der gesamten Gesellschaft heraus. „Es scheint mir widersinnig, dass die Gesetze, die der Ausdruck des öffentlichen Willens sind und die Tötung eines Menschen ablehnen, selber sie vornehmen und, um die Bürger vom Mord abzuhalten, einen öffentlichen Mord anordnen“, so Beccaria. Die staatlich legitimierte Tötung eines Menschen trägt bei zu einer allgemeinen Atmosphäre der Gewalt. „Wenn einmal das Verbrechen als eine Krankheit erkannt wird, wird Freiheit und Gesundheit sich ähnlich werden. Man wird Balsam und Öl anwenden, wo jetzt Feuer und Eisen gebraucht wird. Mit Liebe wird man das Übel behandeln, das man einst mit Wut anfasste“, so beendet Victor Hugo die Einleitung zur Neuauflage 1832.
Nur 102 Länder haben die Todesstrafe abgeschafft
Leider ist die Todesstrafe auch heute noch in vielen Ländern gebräuchlich. Nach Amnesty International hatten bis 2015 nur 102 Länder, also gut die Hälfte, die Todesstrafe abgeschafft. Lediglich die öffentliche Hinrichtung, wie sie Victor Hugo schildert, ist Vergangenheit. Die Ermordung eines Menschen geschieht heute meist im Verborgenen hinter Gefängnismauern. Europa ist gottlob todesstrafenfrei. Alle 47 im Europarat vereinigten Länder haben die Todesstrafe aus ihren Verfassungen gestrichen. In unserem Grundgesetz lautet Artikel 102 kurz und bündig: „Die Todesstrafe ist abgeschafft“. Die Hessische Verfassung, in der die archaische Strafform immer noch auftaucht, wird demnächst per Volksabstimmung an dieses übergeordnete Bundesrecht angepasst werden.
Derart privilegiert, sollten wir EuropäerInnen uns für die weltweite Abschaffung von Hinrichtungen einsetzen. Zumal Erdogan laut nachdenkt, die seit 2005 in der Türkei abgeschaffte Strafe wieder einzuführen. Für mich spricht vor allem gegen dieses staatliche Morden, dass es Symptom einer Kultur der Gewalt ist und nicht deren Lösung. Im Gegenteil, die Gesellschaft wird gewaltbereiter, wenn der Staat sich so unzivilisiert verhält.
Victor Hugo, Der letzte Tag eines Verurteilten erschien im anaconda-Verlag und ist auch über amazon zu beziehen. Nicht nur der Preis von 3,95 Euro macht den kleinen Band mit 90 Seiten als Klassenlektüre geeignet. Wer das Thema in der Schule diskutieren will, kann auch bei Gabi Uhl von der ‚Initiative gegen die Todesstrafe eV‘ anfragen, ob sie in die Klasse kommt und informiert (gabi20uhl@gmail.com).