Rolf Dieter Brinkmann

Ein wüster Traum

Von Bruno Rieb

„Frank Xerox‘ wüster Traum“ gibt Einblick in die Arbeitsweise des Popliteraten Rolf Dieter Brinkmann. Gemeinsam mit Ralf-Rainer Rygulla werkelte er an dem Buch, das nun im Axel Dielmann Verlag veröffentlicht wurde. Das Duo wollte durch seine Zusammenarbeit die klassische Autorenschaft aufheben.

Kooperation statt klassische Autorenschaft

Brinkmann erlebt gerade eine Renaissance. Im Rowohlt Verlag ist sein Gedichtband „Westwärts 1 & 2“ wieder aufgelegt und erstmals eine Biografie über ihn veröffentlicht worden. Anlass ist ein doppeltes Jubiläum: Am 16. April 2025 wäre er 85 Jahre alt geworden und am 23. April 2025 jährt sich sein Todestag zum 50. Mal. Brinkmann ist nur 35 Jahre alt geworden. Er kam bei einem Poesiefestival in London ums Leben, als er eine Straße überqueren wollte, ohne auf den Linksverkehr zu achten.

Zusammen mit Rygulla hatte Brinkmann 1969 die wegweisenden Anthologien amerikanischer Pop- und Undergroundliteraten „ACID“ und „Silverscreen“ veröffentlicht. Geschult an amerikanischen Vorbildern wie Ted Berrigan/Ron Padgett, Tom Clark/Peter Schjedahl oder John Ashbery/James Schuyler planten die beiden „Frank Xerox‘ wüster Traum“. Sie wollten die Texte gemeinsam schreiben. Das Werk sollte im März-Verlag erscheinen, in einem „richtigen steifen, soliden Papp-Einband wie bei Kinderbüchern“, schlug Brinkmann vor. Der März-Verlag hatte es bereits für sein Programm 1974 angekündigt, zur Veröffentlichung kam es aber nicht, weil Brinkmann ums Leben kam und der März-Verlag Pleite ging.

Brinkmanns Entwurf für das Buchcover.

Rygulla taucht ins Nachtleben ab

Dass das Manuskript nach 50 Jahren doch noch das Licht der Buchwelt erblickte, ist Rygulla und dem rührigen Frankfurter Kleinverleger Axel Dielmann zu verdanken. Rygulla war nach der März-Insolvenz und einem zweijährigen Gastspiel als Lektor beim Rowohlt Verlag „für ein Vierteljahrhundert ins Nachtleben – zehn Jahre als DJ und fünfzehn Jahre als Club-Betreiber“ – verschwunden, wie er im Nachwort zum wüsten Traum schreibt. 2024 übergab er dann das vollständige Manus- und Typoskript zu Frank Xerox dem Deutschen Literaturarchiv Marbach.

Dielmann griff zu und veröffentlichte nun die zentralen Texte, ergänzt durch einen Briefwechsel zwischen Brinkmann und Rygulla, Redaktionsnotizen und Anmerkungen von Dieter Wellershoff und Brinkmann-Biograf Michael Töteberg. „Den Band in meinem Literatur-Programm zu haben, ist für mich verlegerisch eine ganz besondere Freude“, schreibt Dielmann dem Landboten, und fährt fort: „des Buches selbst wegen natürlich, aber auch weil Ralf-Rainer Rygulla bei mir (zusammen mit Marco Sagurna) vor drei Jahren die wuchtige Lyrik-Anthologie ‚Der Osten leuchtet‘ mit weiß gott packender ost- und südost-europäischer Lyrik herausgegeben hatte, sich hier also eine anregende Zusammenarbeit fortsetzt; und obendrein weil ich – zugegeben – doch ein wenig stolz bin, in gewisser Weise an die Experimente des damaligen MÄRZ Verlags anknüpfen zu dürfen“.

Aufgemacht wie ein Leitz-Aktendeckel

Das Buch im DIN A 4-Format ist aufgemacht wie der Leitz-Aktendeckel, in dem das Manuskript 50 Jahre lang schlummerte. Es sind meist Faksimiles der Entwürfe, die oft handschriftlich korrigiert sind. Der Titel ist inspiriert vom 1959 erstmals ausgelieferten Groß-Kopierer des Unternehmens Xerox. Im titelgebenden Gedicht heißt es: „Die Kopien werden alle / schwarz / wie die Pest, die um uns / ‚wütet'“. Es wird mit dem Namen gespielt: mal heißt er „Franzel Kserosch“, mal „Frank Ceroß“ und schließlich „Franz Zerocks“. Die Milchstraße wird zur größten „Kopieranstalt des Alls“ erklärt. Und für das Unternehmen komme es nur noch darauf an, dass die Entwicklungsländer nachziehen. „Doch die Bestellungen aus der dritten Welt bleiben / aus. / Franz Zerocks / verläßt / seine / Zeit.“ Tatsächlich ein wüster Traum.

Joseph Beuys ist „Der Filz und der Mensch“ gewidmet. Beuys hatte bekanntlich ein Faible für Filz. Es heißt dort: „Der Starke nimmt den Kampf auf mit den Strahlen, / die den Filz so dominant machen, Hustenanfälle inklusive. / Diskret, na klar, schließlich sitzt dort mitten im Filz / Herr Joseph Beuys / und kaut die Fingernägel ab, um sie später / der Kunstwelt / als einziges Miniatur-Haufendorf der / Bundesrepublik Deutschland / vorzuführen.“ Schon wieder ein wüster Traum.

Gedicht über eine lange Zugfahrt.

Ein langes Gedicht erzählt vom längsten Zug der Welt. Über den Speisewagen heißt es: „Warum Kellner? warum Trinkgeld? das Klingeln ist kein Klingeln, es ist ein anhaltendes Rappeln der Deutschen Bundesbahn, / dem jeder zuhören muß, / weil es so laut ist, dass man andauernd den einen Gedanken verliert, den man auf die Reise / mitgenommen hat / (dieser Rhein ist wirklich / deutsch, wegen seiner ‚Schönheit“ aber nicht)“. Noch ein wüster Traum.

Die Gedichte sind meist eher flach- als tiefsinnig. Gedichte in Französisch werden ohne Kenntnis der Fremdsprache nach Gehör übertragen. Aus Paul Eluards Zeile „Pas brassées de murmures la lande et ses fantomes / Répetaint les discours dont je m’étourdissais“ machen die beiden „Papa Brasse murmelt über die Länder und deren Phantome / wie ein Patient: ‚macht doch kein Scheiß!.“ Alleine „Die neun Leben des Elvis Presley“ erzählt recht realistisch aber auch mit einer gewissen Naivität die Lebensstationen der Königs des Rock ’n‘ Roll.

Gedichtübersetzung aus dem Französischen nach Gehör ohne jede Sprachkenntnis.
Sind das überhaupt Gedichte?

Anders als man vermuten könnte, spielte „Rauschgift beim Verfassen der Kollaborationen nur eine geringe Rolle – hin und wieder ein Bier, ein Glas Wein, wenn vorhanden, zwei, drei Experimente mit Cannabis“, berichtet Rygulla. Wie die Zusammenarbeit funktionierte, erzählt er an einem Beispiel: „Wir fuhren mit dem Zug irgendwohin und schrieben dabei ein Gedicht. Ein sehr langes ist zwischen Köln und Darmstadt entstanden, auf der Fahrt zum Melzer Verlag. Wir assoziierten frei aus der Situation heraus, nach dem, was wir durch die Fensterscheiben sahen, nach Stichwörtern, die wir uns zuspielten. Da war nie ein Zwang, uns oder Lesern eine bedeutende Mitteilung zu machen. Das lustvolle Erstellen eines Textes stand im Vordergrund.“

Wie er Gedichte versteht, erklärt Brinkmann im Vorwort zur Anthologie „Silverscreen“: „Der entscheidende Unterschied zu der ‚Lyrik“, wie wir sie verstehen, ist, dass Bilder gegeben werden, andere Vorstellungen (images), die sinnliche Erfahrung als Blitzlichtaufnahme; es passiert nicht die Zurückbiegung des Gedichts auf ein Sprachproblem oder auf unpersönliche Metaphern oder das bloße Allgemeine (der ‚Politik‘) denn Leben ist ein komplexer Bildzusammenhang. Es kommt darauf an, in welchen Bildern wir leben und mit welchen Bildern wir unsere eigenen Bilder koppeln.“

„Sind das überhaupt noch Gedichte?“ fragt Dieter Wellershoff im Anhang von Frank Xerox‘ wüstem Traum und antwortet: „Das Gedicht als exklusiver Kultgegenstand ist unglaubhaft geworden bis zur Peinlichkeit. Ich sehe es als die leichteste, beweglichste Äußerungsform, als Einübung in ein freies individuelles Sprechen, das es anders noch nicht gibt.“ Ein vernichtendes Urteil fällte dagegen die Literaturwissenschaftlerin Marianne Kesting. Brinkmann und Rygulla hatten in kleiner Auflage (300 Exemplare) die Literaturzeitschrifft „Gummibaum“ herausgegeben, sie tapfer an „Spiegel“, „Zeit“, „Süddeutsche und auch an größen der Literaturszene geschickt, darunter auch Kesting. Die antwortete: „Lieber Herr Brinkmann, ich finde es ja sehr demokratisch, daß sie nun all Ihre netten Freunde schreiben lassen, und sicher sind Sie damit ganz up to date, denn wir gehen einem Zeitalter entgegen, in dem alles schreiben, malen, kompomnieren wird, ganz gleich, ob nun irgendein Talent vorhanden ist oder nicht. Und sicher gibt der ‚Gummibaum‘ auch einen Ausblick in die Zukunft, als hier schon ansichtig wird, was dabei herauskommt: Pennälergedanken und -Aufsätze, mittler oder vollkommener Schwachsinn, Futter für den Papierkorb.“ Für sie ist der Werk von Brinkmann/Rygulla ein wirrer Traum.

Die Texte im Anhang sind es, die Dielmanns Veröffentlichtung des wüsten Traums besonders interessant machen, vor allem Rygullas Nachwort „Zu Frank Xerox“, aber auch Brinkmanns Notizen zu dem Werk, Wellerhoffs Überlegungen, ob das noch Literatur ist und Kestings scharfe Kritik.

„Frank Xerox‘ wüster Traum und andere Kollaborationen“ von Rolf Dieter Brankmann und Ralf-Rainer Rygulla, 112 Seiten, 4-farbig, Softcover, AIN A 4, 26 Euro, ISBN: 978-3-86638-469-9.

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