Als Österreich zur Diktatur wurde
Von Jörg-Peter Schmidt
Zu den unerfreulichen Jubiläen im Jahr 2018 gehört der 80. Jahrestag des sogenannten „Anschlussses“: Im März 1938 erfolgte durch die Nazis gewaltsam die Eingliederung Österreichs in das „Deutsche Reich“. Wie es dazu kam, erläutert der französische Schriftsteller und Regisseur Éric Vuillard in seinem neuen Buch „Die Tagesordnung“, für das er mit dem renommierten Prix Goncourt ausgezeichnet wurde.
Neues Buch von Éric Vuillard
Der Autor zeichnet nach, wie verschiedene Industrielle und Politiker im In- und Ausland (unter anderem zunächst in England und Frankreich) durchs Anbiedern oder durchs Wegsehen den Weg für das Hitler-Regime zur Besetzung von Österreich bis hin zum Zweiten Weltkrieg die Weichen stellten. Es ist ein beeindruckendes Buch, das in einer Kombination zwischen Roman und Dokumentation geschrieben ist. Der Mann auf dem Titelbild des Buches ist der deutsche Industrielle Gustav Krupp von Bohlen und Halbach.

Es beginnt mit der Chronologie des Geheimtreffens am 20. Februar 1933 im Reichstagspräsidentenpalais in Berlin zwischen führenden Unternehmern mit NS-Größen – an der Spitze Adolf Hitler und Hermann Göring. Zweck der Besprechung: Die Finanzierung des Wahlkampfs der NSDAP für die Reichstagswahlen. Die Elite der Industrie katzbuckelte vor den politischen Verbrechern, die die Welt ins Unglück stürzen würden. Es wurde tüchtig gespendet, so Vuillard. Auf Seite 18 erwähnt er beispielsweise die beträchtlichen Gaben von Gustav Krupp von Bohlen und Halbach (Vorsitzender des Präsidiums des Reichsverbandes der Deutschen Industrie) und Georg von Schnitzler (Vorstandsmitglied der I.G. Farben) an Hitler und seine Getreuen.
Einige Kapitel später begegnen wir diesen Unternehmern und ihren Unternehmen wieder – auch Gustav Krupp. Nicht nur er hat Zwangsarbeiter für seine Fabriken „gemietet“, ebenso beispielsweise die Firmen Bayer, BMW, I. G. Farben und Telefunken, erfährt man von Vuillard. Der Autor fasst die Folgen der Entbehrungen in Konzentrationslagern und der Zwangsarbeit in folgendem Satz zusammen: „Von den sechshundert, 1943 bei den Krupp-Werken eingegangenen Deportierten waren ein Jahr später nur noch zwanzig übrig.“ Und weiter: „Gustav Krupp gründete das auf den Namen seiner Frau getaufte Berthawerk: „ eine konzentrationslagerartige Fabrik … Dort lebte man verlaust und schwarz vor Dreck…dort wurde man um halb fünf geweckt, von SS-Wachen und abgerichteten Hunden flankiert, geschlagen und gefoltert.“
Soweit das Thema „Industrie“ in dem Buch, dessen Schwerpunkt – wie bereits erwähnt – allerdings die Schilderung der letzten Tage vor der Besetzung durch die Nazis in Österreich ist. Auf Seite 27 begegnet der Leser dann dem österreichischen Kanzler Kurt Schuschnigg, der sich am 12. Februar 1938 (zunächst als Skiläufer verkleidet) mit Beratern nach Berchtesgaden begibt – auf „Einladung“ Hitlers. Er war bisher in seinem Heimatland in diktatorisch-arrogantem Stil aufgetreten, wurde noch als Justizminister wesentlich dafür mitverantwortlich, dass die Todesstrafe wieder eingeführt wurde und es Hinrichtungen gab. Auf den nächsten Seiten erlebt man aber, wie dieser„ starke Mann“ bei den Besprechungen auf dem Berghof mit Adolf Hitler zu einem vor Angst schlotternden, Kette rauchenden Männlein schrumpft, das befürchtet, diesen Besuch in Deutschland nicht zu überleben. Schuschnigg lässt sich von dem Menschenverächter Hitler so lange niederbrüllen, dass er – eingeschüchtert auch durch die Anwesenheit weiterer führender Nazi-Politker wie Joachim von Ribbentrop und Franz von Papen – Forderungen unterschreibt, die die österreichische Regierungsmitglieder zu Marionetten degradieren und den Nazis im deutschen Nachbarland um so größere Macht verleihen.

In den nächsten Tagen ging dann alles sehr schnell: Zwar gab es in Wien und anderen Städten Protestaktionen gegen das das „Berchtesgadener Abkommen“ – aber bereits im März 1938 marschierte die deutsche Armee in Österreich ein, euphorisch begrüßt von hysterisch verblendeten Menschenmassen. Kurt Schuschnigg verschwand aus der Öffentlichkeit in deutschen Konzentrationslagern (von 1939 bis 1945, zeitweise zu besseren Bedingungen als die der üblichen Häftlinge), bevor er mit seiner Familie befreit wurde und in den USA Professor für Politikerwissenschaft wurde.

Vuillard schildert in einem der deprimierendsten Kapitel seiner Dokumentation, was abseits des Jubelempfangs für die Besatzer in Österreich geschah: Kurz vor dem „Anschluss“ hatte es in Österreich etwa 1700 Selbstmorde gegeben – viele davon als stiller Protest. Der Autor schreibt über diese Toten, von denen er einige namentlich nennt: „Womöglich haben Alma, Karl, Leopold oder Helene vom Fenster aus gesehen, wie Juden durch die Straßen geschleift wurden. Ein kurzer Blick auf die rasierten Schädel hatte ihnen genügt, um zu verstehen“. Ein paar Sätze heißt es weiter über eine Österreicherin, die Selbstmord verübt hatte, während das Volk in seiner Hitler-Begeisterung wie im Wahnsinn tanzte: Sie muss „in einem Anfall des Grauens hinter den Tausenden von Silhouetten und Gesichtern plötzlich Millionen von Zwangsarbeitern gesehen haben. Hinter dem erschreckenden Freudentaumel ahnte sie bereits den Granitsteinbruch in Mauthausen. Und da sah sie sich sterben.“
Knapp über 100 Seiten hat dieser schmale Band, dessen Geschichte weitgehend auf historischen Fakten basiert, einiges fiktiv ist. Fest steht aber: In diesem Bestseller (beispielsweise auf der „Spiegel“-Liste) wird dem Leser eine historische Entwicklung vor Augen geführt, die sich bis heute ständig wiederholt: Diktaturen entstehen, es finden sich sofort willige Finanziers und weitere Kriecher – die Herrscher suchen für das Volk Feinde, finden diese auch, schüchtern Oppositionelle ein, sperren sie gleich weg oder lassen sie ganz verschwinden. Von daher ist dieser Beitrag von Vuillard, der bereits einige sehr gut besprochene Bücher (u. a. „Kongo“) aktueller denn je.
„Die Tagesordnung“ ist im Verlag Matthes & Seitz erschienen und kostet 18 Euro.