Monte Verità

Der Berg der Wahrheit

Von Michael Schlag

Monte Verità, Berg der Wahrheit, in dem Namen steckt Verheißung. Es ist die Zeit um 1900, in Deutschland herrscht der Kaiser, aber dort leben die Utopien. Der Monte Verità ist ein Hügel im Tessin oberhalb von Ascona am Lago Maggiore. Er steht bis heute für Ideen von neuen, kooperativen Lebensformen, für die Überwindung repressiver Normen einer Gesellschaft. Der Weg dahin: Abkehr vom städtischen Leben, rein pflanzliche Ernährung („Vegetabilismus“), Selbstversorgung durch körperliche, nicht entfremdete Arbeit.

Auf der Suche nach der Wahrheit

Der Monte Verità wurde um 1900 die „südlichste Position der umfassenden nordischen Lebensreformbewegung,“ so schreibt es der Museumsführer. Die Gründer fanden sich in München: Die Pianistin Ida Hofmann aus Montenegro, der Fabrikantensohn Henri Oedenkoven aus Belgien und die Brüder Gräser aus Siebenbürgen, der Maler Gustav Gräser und der Ex-Offizier Karl Gräser, der konsequenteste von allen. Auf der Suche nach der Wahrheit beschlossen sie im Herbst 1900, im Süden eine vegetarische Kolonie zu gründen, fanden in Ascona das passende Gelände namens „Monescia“ und gaben ihm den neuen Namen „Monte Verità“, so heißt es bis heute.

Die Gründer der vegetarischen Kolonie. (Fotos: Michael Schlag)

Zunächst gegründet als „vegetabilische Gesellschaft“, stellten sie mit Datum des 15. März 1913 die „Statuten der individualistischen Cooperative von Monte Verita“ auf. Diese legen den anspruchsvollen Zweck der Gesellschaft fest: Ansiedlungen mit besseren Existenzbedingungen, einfachem Leben ohne Luxus, wo man, befreit von sozialen Vorurteilen, „sich so wahr geben kann wie man ist“. Und man ruft hier nicht nach der Justiz: Alle Mitglieder verpflichten sich, im Falle einer Rechtsfrage mit einem anderen Mitglied nicht die staatlichen Gerichte in Anspruch zu nehmen. Und schließlich die Gleichberechtigung der Geschlechter: Jeder verheiratete Mann in der Cooperative verpflichtet sich, seiner Frau völlige Unabhängigkeit einzuräumen, insbesondere finanzielle Unabhängigkeit.

Die Statuten der Cooperative von Monte Verità.

Gelebte Wahrheit

Sie trugen leichte, zwanglose Reformkleider, Männer trugen lange Haare, man lebte in schlichten Hütten, ernährte sich rein pflanzlich, arbeitete im Garten und auf dem Feld, leicht oder gar nicht bekleidet. In der Summe eben: „gelebte Wahrheit“. Anfangs gab es zum Essen einzig Rohkost, zur Hauptsache Früchte. Auch „Reizmittel“ aller Art, wie Kaffee, Tee, Tabak und Alkohol waren verpönt auf dem Monte Verità, ebenso wie die Zugabe von Salz zu den Speisen. Ida Hofmann schrieb dazu 1905: Vegetarische Lebensführung „bringt das Einzelwesen auf eine sittlich so hohe Stufe, dass ihm der blutige Kampf zwischen Mensch und Mensch unmöglich wird.“

Die Kleidung im Museum.

Mehr als ein Jahrhundert ist das her, aber Vieles könnte von heute sein. Vegane Ernährung als ethisches Prinzip, eine städtische Projektion vom edlen Leben auf dem Land. Manches haben die Siedler vom Monte Verità um Jahrzehnte vorweggenommen, die Gleichstellung der Frau, die Idee einer gerechten, nachhaltigen Welt. Man muss sich das vorstellen: Wir reden vom Jahr 1900, in Deutschland herrscht ein repressives, militaristisches Kaiserreich auf dem Höhepunkt seiner Macht. Die Statuten von der besseren Welt entstanden ein Jahr vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs.

Prominente geben sich die Klinke in die Hand

An den kleinen Häusern kann man nachempfinden, wie sie damals lebten. Etwa die Hütte Casa Selma, 1904 von den ersten Siedlern als eine von zwölf „Licht-Luft-Hütten“ gebaut. Oder auch die Casa dei Russi, ein Zufluchtsort für russische Studenten nach der Revolution von 1905. Ein repräsentativer Bau dagegen ist das heutige Museum Casa Anatta, das Wohnhaus der Gründer Henri Oedekoven und Ida Hofmann, die natürlich nicht amtlich verheiratet waren, sondern in „Gewissens-Ehe“ lebten. Und dann kamen die Künstler, Anarchisten und Literaten aus dem Norden, spätestens jetzt beginnt der Mythos des Monte Verità.

Die Hütte Casa Selma.

Und wer sich alles hier hat blicken lassen – Hermann Hesse, Else Lasker-Schuler, D.H. Lawrence, August Bebel, Karl Kautsky. Der Literat und Anarchist Erich Mühsam (Herausgeber der Zeitschrift für Menschlichkeit, KAIN) reiste 1904 bis 1909 jeden Sommer nach Ascona. Er hat Vieles aus der Zeit aufgeschrieben, etwa über einen der Gründer Gustav Gräser, genannt Gusto: „Er genierte sich noch weniger als die anderen. Er war blossbeinig und hatte eine lange härene Tunica malerisch um sich drapiert. […] Nur selten legte er Sandalen an; auch über steinige Wege konnte er barfuss gehen.“ Dessen Bruder Karl Gräser, ein Naturmystiker, lehnt alle industriell gefertigten Produkte ab. Er stellt sämtlichen Hausrat von eigener Hand her, wobei er darauf achtet, die heiligen Formen der Natur so wenig wie möglich mit Werkzeug zu zerstören.

Ab 1905 kommt regelmäßig der Grazer Psychiater und Freud-Schüler Otto Gross zum Monte Verità, er plant in Ascona eine „Hochschule zur Befreiung der Menschheit“. Ihm schwebt im Übrigen „die Zertrümmerung der Monogamie“ vor, als Befreiung der Frau und vor allem des Mannes. 1913 eröffnet der ungarische Tänzer Rudolf von Laban auf dem Monte Verità eine „Sommerschule für Bewegungskunst“.

Hermann Hesse wohnt im Frühjahr 1907 vier Wochen zur Kur in einer der Licht- und Lufthütten. Stolz schreibt er einem Freund, dass es ihm hier gelinge, vom Alkohol abstinent zu leben und berichtet vom „Luft- und Sonnenbadplatz, wo man nackt geht“. Gesellschaftlich war das Alles unerhört. So schreibt Ulrich Linse 1969 in seiner Doktorarbeit über das Kaiserreich von einer „Massierung syndikalistischer und individueller Anarchisten in Ascona.“ Mit seinen vielen Besuchern galt der Monte Verità sogar als „geheimer Treffpunkt der (anarchistischen) Intelligenz“.

Schließlich übernimmt das Geld

Die Gründer Ida Hofmann und Henri Oedenkoven entwickelten die Siedlung weiter, sie führten die geräumige Casa Anatta ab 1905 als „Gästehaus mit Komfort“. Aus der anarchischen Siedlung wurde eine Sonnen-Kuranstalt und das Sanatorium Monte Verità. Sehr zum Missfallen von Erich Mühsam, der sich vorgestellt hatte, hier eine kommunistische Lebensgemeinschaft aufzubauen. Enttäuscht schrieb er, jetzt sei es ein Sanatorium wie andere auch, nur eben ein vegetarisches. Und dichtete zum Spott das alkoholfreie Trinklied „Der Gesang der Vegetarier“: Wir essen Salat, ja wir essen Salat / und essen Gemüse früh und spat. / Auch Früchte gehören zu unserer Diät. / Was sonst noch wächst, wird alles verschmäht.

1920 zogen die Gründer weiter nach Brasilien, der Hügel verwilderte. 1923 kaufte eine Gruppe expressionistischer Maler das Sanatorium und machte daraus eine Künstlerkolonie, die mit spektakulären Maskenbällen auffiel. Auch dieses Vorhaben konnte sich aber – wie alle anderen – wirtschaftlich nicht halten. Und so übernahm schließlich das Geld. 1926 kaufte der Bankier Eduard von der Heydt den Hügel von Ascona und ließ durch den Architekten Emil Fahrenkamp ein Hotel im Bauhaus-Stil errichten. Heute ist der Monte Verità ein Kongress- und Kulturzentrum der gleichnamigen Stiftung im Besitz des Kantons Tessin und der Hochschule ETH Zürich.

Nur 20 Jahre dauerte die anarchistische Gemeinschaft des Monte Verità, aber auf die vielen Besucher damals muss das Lebensmodell einen enormen Eindruck gemacht haben. Erich Mühsam, den die Nazis 1934 im KZ Oranienburg ermordeten, schrieb noch drei Jahre zuvor rückblickend über den Monte Verità: „Im Sommer 1904 kam ich zum ersten Mal nach Ascona, hier lebten Leute, Landsleute sogar, die vor Kapitalismus, Zivilisation, europäischem Betrieb und gesellschaftlicher Verlogenheit geflüchtet waren, um nach eigenen moralischen und gesellschaftlichen Grundsätzen in freiwilliger Verbundenheit und in individueller Gemeinschaft ein Beispiel zu geben.“

monteverita.org/de

mediaguide.monteverita.org

Titelbild: Das Museum Casa Anatta.

Ein Gedanke zu „Monte Verità“

  1. Seit 1978, der „Ausgrabung“ des Monte Verita durch Harald Szeemann, nix Neues !

    Ein Stefan Bollmann, möchte ohne Nennung von Quellen, und unter Angabe vom falschen Todesjahr dem Karl Gräser die Syphilis andichten. Zum Kongress der Jubiläumstagung „100 Jahre Monte Verita“ ist der Verantwortliche Andreas Schwab nicht in der Lage für neue Aspekte in der Forschung zu sorgen. Er bedient sich ausschließlich am schon von Szeemann zusammengetragenen Fundus.

    Bei Landmann – MV „Geschichte eines Berges“ wird noch in der 3.Aufl. von 1934 behauptet:  In Brasilien gründeten sie eine neue Kolonie, die heute noch in Catalão bestehen soll.
    Mit diesem Anhaltspunkt hätte der „Herr Kurator“ die noch lebenden Oedenkoven-Nachfahren an genau diesem Ort in Brasilien finden können.  WARUM GAB ES DIESE BEMÜHUNG  um O-Töne der Oedenkovens NICHT ?

    WARUM wurde zu diesem Anlass Idas Hofmann und ihrem Initiationsnamen im O.T.O. nicht nachgegangen, und ihre Verknüpfung mit den Gnostikern umfangreich bis zur  „Monte Sol“ Okkult-Eugenik-Kolonie mit Sternwarte nachverfolgt ? Nach dem Tod von Ida Hofmann wollte keiner der Beteiligten in Brasilien mehr das Projekt umsetzen, alle gingen danach ihre eigenen Wege. Und Idas Nichte blieb mit einem Rassisten verheiratet, in der Astrologie verfangen…

    Ida Hofmann 1925:     „Es werden bereits Stimmen laut, die die Gründung einer neoarischen eugenischen Kolonie in unserem Teil der Welt (Brasilien) ankündigen. Neben anderen interessanten Punkten wird vor allem einer die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf sich ziehen: die Gründung einer Sternwarte für Astronomie, Seismologie und Meteorologie“

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