Moral über alles?
Von Michael Schlag
Die globalen Ereignisse und ihre politisch-mediale Darstellung klaffen weit auseinander. Das stellt Michael Lüders in seinem äußerst lesenswerten Buch „Moral über alles“ fest. Er beschreibt, wie sich die Welt im Windschatten des Ukraine-Krieges neu sortiert.Sanktionen als wirtschaftlicher Selbstmord
Deutschland hat eine böse Geschichte, war einst der schlimmste Verbrecher der Welt. Zum Glück ist heute alles anders, jetzt sind wir die Guten, wir sagen das auch gerne. Die Ernährung vegan, die Autos elektrisch, die Wirtschaft nachhaltig, die Außenpolitik werteorientiert und feministisch. Das soll nun jedes andere Land auch so machen und gemeinsam mit uns auf der Seite der Guten gegen das Böse stehen. Wie das ganz fürchterlich daneben geht, zum Nachteil des eigenen Landes, zum Nachteil Europas, und ganz und gar zum Nachteil der Ukraine, beschreibt Michael Lüders in dem Buch „Moral über alles“. Lüders sieht „eine gewaltige Kluft zwischen der politisch-medialen Darstellung globaler Ereignisse und dem, was tatsächlich geschieht.“
Ein Beispiel dafür ist die Raffinerie Schwedt, damit beginnt das Buch. 24. Februar 2022: Russland überfällt die Ukraine. Die Europäische Union antwortet mit Wirtschaftssanktionen, Deutschland stoppt bald die Ölimporte aus Russland via Pipeline Druschba zur Raffinerie Schwedt. Die EU hatte zuvor aber nur die Tankerexporte aus Russland mit einem Embargo belegt, nicht aber die Versorgung über Pipelines. Insbesondere Ungarn hatte sich gesperrt, das Land bekommt fast alle Importe von Öl und Gas über Pipelines aus Russland und war, so Präsident Orban, nicht bereit zum „wirtschaftlichen Selbstmord“. Michael Lüders schreibt: „Nichts und niemand hat die Bundesregierung gezwungen, zumal kein Beschluss aus Brüssel, die russischen Erdölimporte über Schwedt zu beenden. Sie hat es dennoch getan, als Ausdruck ihrer Entschlossenheit, mit dem Reich des Bösen ein für alle Mal zu brechen.“
Wirtschaftssanktionen funktionieren nicht
Wer davon profitiert hat? Die Nachfragesteigerung nach nicht-russischem Öl trieb die Preise und die Gewinne der Energiekonzerne in die Höhe. Wem es geschadet hat? Russland jedenfalls nicht, wegen der gestiegenen Preise verdient es an seinem Öl mehr als zuvor. Eine Region in Ostdeutschland aber wird ruiniert, Deutschland bringt sich selbst in einen Energienotstand. Einen Sinn ergäben die werteorientierten Sanktionen nicht, so Lüders, er hält sie sogar für einen „Jahrhundertfehler“.
Aber wie konnte es sein, dass der Globale Süden – die Mehrheit der Weltbevölkerung – sich den Wirtschaftssanktionen des Westens nicht oder nur teilweise anschließt? Lüders nimmt eine andere Blickrichtung ein. „Angesichts der jahrhundertelangen europäischen Kolonialherrschaft und imperialen Anmaßung, ist die Bereitschaft, sich vor den Karren westlicher Interessen spannen zu lassen, im Globalen Süden wenig bis gar nicht gegeben.“
Haben Wirtschaftssanktionen überhaupt einmal funktioniert? Besonders stark ist das Buch immer, wenn es historische Bezüge herstellt: „Die am längsten sanktionierten Länder sind Nordkorea (seit 1950), Kuba (seit 1962) und Iran (seit 1979)“. In keinem Fall hätten die wirtschaftlichen Sanktionen zum Sturz eines missliebigen Regimes geführt oder dessen grundlegende Verhaltensänderung bewirkt, schreibt Lüders. Die Sanktionsfolgen ruinierten dagegen – so auch heute im Iran – gerade die Mittelschichten, und damit den Motor eines potenziellen gesellschaftlichen Wandels. Und aktuell bezogen auf Russland: „Wie sollten Boykottmaßnahmen den größten Flächenstaat und größten Energieproduzenten der Welt in die Knie zwingen?“ Die Ukraine wurde von einem verbrecherischen Regime überfallen, wir müssen ihr beistehen, doch es habe keinen Grund gegeben, „dabei ein gewaltiges Chaos anzurichten, auf Kosten des eigenen Wohlstands, auf Kosten aber auch der Ärmeren in der Welt, unter Berufung auf Werte.“
Auf wessen Seite ist die Moral wirklich
Wo nehmen wir das eigentlich her, dass wir die Moral auf unserer Seite haben? Lüders: „Freiheit, Demokratie und Menschenrechte, in jüngster Zeit vermehrt Frauen- und LGBTQ-Rechte, dienen dabei als rhetorische Selbstertüchtigung.“ Was empfahlen angesichts der Energiekrise 2022 maßgebliche Politiker in Deutschland? Wirtschaftsminister Habeck: Zimmertemperatur runter, kürzer duschen; Ministerpräsident Kretschmar: wieder mal Waschlappen benutzen. Lüders nennt es gallig das „Belehrungs- und Besserwisser-Syndrom.“ Derweil sich für die deutsche Wirtschaft ein anhaltendes Drama abspielt. Erdgas wird extrem teuer, kommt jetzt als zuvor vermaledeites Fracking-Gas aus den USA, die deutsche Industrie hat viel zu hohe Energiekosten. Aber nun bieten die USA – Hauptprofiteur der Krise – deutschen Firmen die Ansiedlung in ihrem Land an, denn hier ist die Energie viel billiger. (Sehr lesenswert dazu ist auch das Kapitel über die Sprengung der Nord Stream Pipelines und warum amerikanische Recherchen dazu völlig unter den Tisch fielen.) Das Ergebnis: „Deutschland läuft Gefahr, zum größten Verlierer dieser Entwicklung zu werden – aus Hybris und dem Unvermögen, die eigenen moralischen Maßstäbe an der Realität zu messen.“
Mit welcher Berechtigung klopfen wir uns eigentlich so gerne auf die eigene moralische Schulter? Die deutsche Innenministerin sitzt mit One Love Binde im Fußballstadion von Katar. Ein Statement vor aller Augen: Bei uns wäre Eure Diskriminierung von sexuellen Minderheiten unmöglich, wir respektieren nämlich die Menschenrechte. Zur Erinnerung: Der Homosexuellenparagraf 175 wurde in Deutschland erst 1994 abgeschafft, die gleichgeschlechtliche Ehe erst 2017 zugelassen. Will sagen: Bis gestern und vorgestern waren wir selbst nicht besser. Und wie ist zu erklären, dass gerade die Grünen und ihre Wählerschaft am stärksten für Waffenlieferungen an die Ukraine eintreten? Die Guten zeichnet aus, dass sie besonders deutlich gegen das Böse sind – und je mehr gegen das Böse, umso mehr sind wir die Guten. Das Verhängnisvolle dabei, so Lüders: „Das Moralisieren macht jede Verständigung unmöglich.“
Gegen Wladimir Putin besteht ein internationaler Haftbefehl. Recht so! Aber erfüllt das einen Zweck? Um den Krieg in der Ukraine zu beenden, werde es irgendwann diplomatische Gespräche geben müssen – aber wie, wenn der Hauptverbrecher, aber dennoch entscheidender Gesprächspartner, zur Verhaftung ausgeschrieben ist? „Wer moralisch Position bezieht, wähnt sich im Besitz einer höheren Wahrheit und kann schwerlich nachgeben.“ Am Rande bemerkt: Warum wurden George W. Bush und Tony Blair nicht wegen des Irak-Kriegs in Den Haag angeklagt?
Der urbane Mittelstand schaut auf die Malocher herab
Wie wirkt sich das alles auf die Diskussionskultur hierzulande aus? Es geht um die Zugehörigkeit zur „Konsensgemeinschaft“. Wer die offizielle moralische Linie hinterfragt, riskiert Ausgrenzung. Bei einer Veranstaltung mit Buchvorstellung in der Stadthalle Friedberg sprach Michael Lüders vom „Meinungskorridor“. Wer heute jung ist und beruflich noch etwas erreichen will, solle sich tunlichst überlegen, was er sagt, denn „nicht die Faktenlage ist im Zweifel entscheidend, sondern die Authentizität der eigenen Empfindung, der moralisierende Impuls.“
Stränge der Moralisierung sind die Gendersprache als Ausdruck korrekter Gesinnung, oder auch der Vorwurf „kulturelle Aneignung“: Lüders spottet: Darf ein Weißer Rasta-Locken tragen, dürfen Chinesen Mozart spielen, dürfen Deutsche Pizza essen? Und er treibt es auf die Spitze: Wenn ein alter weißer Mann sagt „die Erde ist eine Kugel“, dann sei doch erstmal zu fragen, ob der überhaupt darüber reden darf. Wenn ein Angehöriger einer benachteiligten Minderheit sagt, „die Erde ist eine Scheibe“, dann sei das hingegen ein beachtenswerter Beitrag zur Debattenkultur.
Nur wenig interessierten sich grüne Moralisten aber für diejenigen, die den Preis für ihre Weltenrettung zu zahlen haben, schreibt Lüders. „Der urbane Mittelstand wird auch weiterhin Lastenfahrrad fahren, sich gesund ernähren und auf seine Work-Life-Balance achten. Und gleichzeitig herabsehen auf die Malocher, die zu viel duschen, mehr Fleisch statt Gemüse essen, zu dick sind, sich zu wenig bewegen, die falschen Autos fahren und einfach nicht verstehen wollen, dass in der Ukraine auch unsere Freiheit verteidigt wird.“ Aber was täten Menschen, die ihre Lebensweise brutal abgewertet sehen und sich als Verlierer einer Entwicklung begreifen: „Sie orientieren sich erfahrungsgemäß in Richtung Rechtspopulismus“. Deshalb sieht Lüders die herrschende Moralpolitik gar als gefährliche Ideologie.
Noch einmal ein weiter Bogen in die Vergangenheit, da habe Moral in der Politik selten zu etwas Gutem geführt. „Die Geschichte ist randvoll mit Verbrechern, die Millionen Menschen auf dem Gewissen haben und sich dabei stets auf eine höhere Moral beriefen.“ Die spanischen Konquistadoren handelten im Namen Gottes, als sie die Mayas und Inkas massakrierten. Die britischen Kolonisatoren klagten gar über die „Bürde des weißen Mannes“, die Wilden in den unterworfenen Ländern zu zivilisieren. Alles wertegeleitetes Handeln, es kostete Millionen Menschen ihr Lebensglück, wenn nicht gleich das Leben. Deutsche Politik heute ist nicht mehr aggressiv; die Zeiten, wo wir regelmäßig unsere Nachbarn überfallen haben, sind gottlob vorbei.
Die Welt sortiert sich neu
Der Vorwurf von Lüders geht in die andere Richtung: „Die Bundesregierung regiert vorwiegend auf der Grundlage einer hochgradigen Moralität, weitgehend ohne Rücksicht auf Deutschlands eigene nationale Interessen.“ Dieses Interesse aber sollte zuvorderst das Wohlergehen der eigenen Bevölkerung sein. Und nicht Wirtschaftssanktionen, die einem selbst mehr schadeten als dem Adressaten. Politik sei schon einmal anders gewesen, nämlich pragmatisch: Selbst beim Mauerbau in Berlin 1961, auch beim Einmarsch des Warschauer Paktes in die Tschechoslowakei 1968 habe man die Kontakte zur Gegenseite nie abreißen lassen. „Kein politischer Entscheider in Bonn wäre auf die Idee gekommen, Sanktionen zu verhängen oder gar einen Regimewechsel herbeiführen zu wollen.“ Selbst in der Kuba-Krise 1962 hätten die Amerikaner gegenüber der Sowjetunion Zugeständnisse gemacht und ihre atomwaffenfähigen Interkontinentalraketen in der Türkei reduziert.
Die Lektüre des äußerst lesenswerten Buches „Moral über alles“ lässt einen leider deprimiert zurück: „Die Welt sortiert sich im Windschatten des Ukraine-Krieges neu. Das wenigste davon nehmen wir hierzulande wahr, aus Ignoranz, Selbstbezogenheit und Glaubensgewissheit.“
Blick ins Buch: penguin.de/Rezensionen
Michael Lüders: „Moral über alles? Warum sich Werte und nationale Interessen selten vertragen“, Verlag Goldmann, ISBN 978-3-442-31731-8, 256 Seiten, 18 Euro.
Titelbild: Michael Lüders bei der Vorstellung seines Buches in der Stadthalle in Friedberg. (Foto: Michael Schlag)