Erinnern ist Widerstand
Von Michael Schlag
2022 erhielt die russische Menschenrechtsorganisation Memorial den Friedensnobelpreis. Am Tag der Verleihung im Oktober 2022 ordnet die russische Regierung die Beschlagnahmung des Büros in Moskau an. Nach der Razzia prangt auf Möbeln und Materialien der Buchstabe «Z». Memorial ist in der Welt für seine Aufklärungsarbeit bekannt und wird für seine Arbeit als „das kritische Gedächtnis Russlands“ hoch geehrt. Das Putin-Regime erklärt ihm jedoch unerbittliche Feindschaft. Mittlerweile ist Memorial gänzlich aus Russland vertrieben und setzt seine Arbeit im Exil fort. Aber warum ist die Pflege der Erinnerung so gefährlich für eine Diktatur? Und was macht diese unvergleichliche NGO überhaupt? Im jetzt erschienenen Sammelband „Memorial – Erinnern ist Widerstand“ legen Beteiligte und Begleiter ein eindrückliches Zeugnis ab.
Rückkehr in imaginäres Gestern
Mehr als 30 Jahre kämpft Memorial für die Aufarbeitung der totalitären Herrschaft in der ehemaligen Sowjetunion – und setzt seine Arbeit fast nahtlos fort über die Diktatur in Russland. Irina Scherbakowa ist Gründungsmitglied und heute die Vorsitzende von „Zukunft Memorial“ in Berlin. Sie schreibt: „Zur selben Zeit, als das Nobelpreiskomitee die Preisträger bekannt gab, saßen die Mitarbeiter in einem Moskauer Gerichtssaal“. Aber wie kann gesammelte und dokumentierte Erinnerung dermaßen strafbar sein? Der Grund: Weil die heutigen Herrscher in Moskau die Sowjetunion zur glorreichen Zeit erklären und die totalitäre Geschichte für ihre eigenen Zwecke umdeuten. Stalin wird wieder heroisiert und der Bevölkerung eingeredet, „es gebe für sie keine andere Zukunft als die Rückkehr in dieses imaginäre Gestern,“ schreibt Irina Scherbakowa.
Verbrechen ahnden, Opfer rehabilitieren
Das war einmal ganz anders. Memorial wurde im Januar 1989 gegründet, und es war „nach Jahrzehnten die erste unabhängige Vereinigung, die in der Sowjetunion offiziell zugelassen wurde“. Die Forderungen damals wie heute: Geheimarchive öffnen, vom kommunistischen Regime verübte Verbrechen ahnden, Opfer rehabilitieren. Das ist mühevolle Kleinarbeit: Zeitzeugen hören, Dokumente sichern, Fotos sammeln. In Memorial richtete Erinnerungsstätten ein, wo Menschen Dokumente vorbeibrachten, um sie aufzubewahren und auszuwerten. Es ging um tägliche Recherche und Dokumentation, um Millionen von Datensätzen.
Öffentliches Gedenken an die Repression
Und tatsächlich gab es zu Anfang Erfolge. Im Oktober 1991 erließ die Jelzin-Regierung das „Gesetz über die Rehabilitierung von Opfern politischer Repression“ und im Jahre darauf den „Erlass über die Aufhebung des Geheimhaltungsgrads“. Forscher bekamen Zugriff auf geheim gehaltene Dokumente der Massenrepression und von Angriffen auf die Menschenrechte. Memorial erstellte ein Handbuch der Gulag-Geschichte, eine Karte der Lager, veröffentlichte die Erschießungslisten des großen Terrors und belegte die unmittelbare Verantwortung der Politbüro-Mitglieder. Es ging um „das öffentliche Gedenken an die Repression“, so Scherbakowa. Memorial sammelte Objekte, die sich bei den ehemaligen Gulag-Häftlingen und ihren Nachkommen erhalten hatten. Auf dreißig Seiten zeigt das Buch winzige Zeichnungen, im Lager entstandene Gedichte, Briefe von politischen Häftlingen an ihre Kinder, in der Not aus Fetzen genähte Kleidungsstücke. Sie lassen den Terror des Gulags erahnen. Gerade als Deutscher fragt man sich: Warum musste das eine NGO machen, hätte das nicht eine staatliche Aufgabe sein müssen?
Sowjet-Armee brachte keine Befreiung
Staatlicherseits aber „gab es keine wirkliche Abrechnung mit der Vergangenheit, die Verbrechen des Stalinismus als eine der humanitären Katastrophen des 20. Jahrhunderts einzustufen“, schreibt Scherbakowa. Die Phase der relativen Informationsfreiheit ging zu Ende mit den Maidan-Protesten in Kyjiw 2004, der Orangenen Revolution. Der Zugang zu Archivdokumenten wurde wieder eingeschränkt und Dokumente zur operativen Tätigkeit der Repressionsorgane nicht mehr freigegeben. Ganz im Gegenteil sollte die sowjetische Vergangenheit jetzt das Rückgrat des neuen russischen Patriotismus werden und „zu einer Quelle des Nationalstolzes und der staatlichen Ideologie.“ Anklage Geschichtsdokumentation war darin nicht zu gebrauchen. Weder nach Innen noch nach Außen – gerade gegenüber den baltischen Staaten habe Russland nie anerkannt, „dass die sowjetische Armee und die Stalin-Diktatur den Ländern Osteuropas nach dem Sieg über den Faschismus keine Befreiung gebracht hatten.“
Staatsverbrecher kommen straflos davon
Das Buch druckt auch die Nobelpreisrede ab von Jan Rachinsky, Vorsitzender des internationalen Memorials. Neben der historischen Erinnerung an den staatlichen Terror nennt er den Kampf für die Menschenrechte in der neuen, postsowjetischen Epoche als heutige Aufgabe von Memorial. Es gehe um „Verbrechen gegen Menschen und gegen die Menschlichkeit, die die Staatsmacht begangen hat und begeht.“ Und Rachinsky beschreibt, was bei der Arbeit von Memorial die ganze Welt angeht und betrifft – das Verhältnis vom Staat zu seinen Bürgern steht Kopf. Nicht die Freiheit, Würde und Rechte der Menschen, sondern die Staatsmacht gilt als höchster Wert. Jan Rachinsky: „Dieses umgestürzte Wertesystem, in dem die Menschen lediglich Gebrauchsmaterial für die Lösung von Staatsaufgaben sind, hat in unserem Land siebzig Jahre geherrscht.“ Zu den Folgen gehören die imperialen Ambitionen der Sowjetunion und nun Russlands: Überfall auf Polen und Finnland, Besetzung der baltischen Staaten, Einmarsch in Ungarn, Einmarsch in die Tschechoslowakei, der Krieg in Afghanistan, die Kriege in Tschetschenien, der Krieg gegen die Ukraine. Und die Personen, die die politischen Entscheidungen treffen, wie auch diejenigen, die direkte Verbrechen begehen, kommen damit straflos davon. Memorials Arbeit sei nicht die hohe Politik, sagt Rachinsky, „wichtiger sind uns die Namen und Schicksale konkreter Personen, die einer verbrecherischen staatlichen Politik zum Opfer fielen.“
Die Angst glüht, der Mund gefriert
Herausragend der Beitrag von Herta Müller, der rumänische-deutschen Schriftstellerin, Trägerin des Literatur-Nobelpreises 2009. Wo habe es das in der Welt schon mal gegeben, dass ein Diktator, der einen Vernichtungskrieg führt, das Wort Krieg verbietet? „Dabei ist dieser Krieg seine Hauptbeschäftigung“. Denn Krieg ist die beste Form der Alleinherrschaft, nur der Krieg garantiere Putin Personenkult und grenzenlose Willkür. Und damit ist einem Satz klar: „Er wird nicht aufhören damit.“ Und sie beschreibt Putin weiter: „Das Imperium seiner Jugend war eine doppelte Kolonialmacht, nach innen und nach außen. Die Sowjets konnten ungestraft schalten und walten. Genommen haben sie sich jahrzehntelang von überall alles, was sie brauchten. Und mitgebracht haben sie die Kultur der politischen Verfolgung und die Dressur durch Angst.“ Memorial arbeitet daran, diese Angst aufzulösen, deshalb die Feindschaft der Regierung. „In Russland darf man bis heute nichts wissen über die Verbrechen von innen und außen, von damals und heute. Deshalb wurde Memorial verboten. Mittlerweile herrscht in Russland wieder das stalinistische Schweigen.“ Und wer jemals als politischer Häftling verhört wurde „weiß für immer, wie die Angst glüht und der Mund gefriert.“
Memorial
Erinnern ist Widerstand
Verlag C.H.BECK 2025
ISBN 978-3-406-83216-1
192 Seiten mit 28 Abbildungen
25 €, als E-Book 18,99 €
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