Judentum heute und Trauma der Shoa
Von Corinna Willführ
Beiden Veranstaltungen wäre mehr Publikum vor Ort zu wünschen gewesen. Die nächste Möglichkeit, das Anliegen der Initiatoren, Rassismus und Antisemitismus vorzubeugen bzw. diesen zu verhindern, besteht am Sonntag, 23. Oktober, mit dem Besuch eines interreligiösen Konzerts in der Marienkirche Ortenberg.
Jung, feministisch und queer,
Helene Shani Braun ist eine junge Frau (25) mit vielen Facetten. Die Collage eines Düsseldorfer Künstlers zeigt sie im Netz vielhundertfach auf Fotos im Briefmarkenformat. Für den Gesprächsabend des Kulturkreises Altes Rathaus Ortenberg war die Berlinerin als „Jung, jüdisch, queer – und bald Rabbinerin?“ angekündigt. Zu allen Aspekten der Frage gab Helene Shani Braun ihrem Publikum im Alter von Anfang 20 bis über 90 Jahren Antworten. Emphatisch, mitunter lächelnd, stets aber mit großer Ernsthaftigkeit.
„Sind Sie so etwas wie Maria 2.0?“, war die erste Frage, die aus der Zuhörerschaft kam. Helene Shani Braun schien für einen Moment überrascht. Dann erfreut über diese, bot sie ihr doch die Möglichkeit darzulegen, warum die Reformbewegung aus der katholischen Kirche doch „sehr verschieden“ zu den Zukunftsaufgaben sei, die jüdische Gemeinden zu bewältigen hätten. So gäbe es doch einen wesentlichen Unterschied. Ihr sei es als Frau nicht prinzipiell verwehrt, ein Rabbinat anzustreben und damit die Tora zu lehren. Auch wenn von orthodoxen Juden Frauen in diesem Amt strikt abgelehnt werden. „Das Judentum gibt es nur im Plural“, sagt sie – mit einem Spektrum an Gläubigen, wenn es um die Religion geht, „das von liberal bis ultra-orthodox reicht.“ Nicht zu vergessen seien in diesem Menschen (nicht nur) aus ihrer Generation, die nicht in die Synagoge gehen, die nicht die jüdischen Feiertage begehen, nicht koscher kochen und für die der der Sabbat keine Ruhezeit ist – die sich aber dennoch dem Judentum als der Geschichte eines Volkes, dem sie sich – als Tochter oder Sohn einer jüdischen Mutter oder über die Traditionen eng – verbunden fühlten. Es sind gerade auch queere jüdische Personen, die sich „von ihren von ihren Gemeinden unverstanden, allein gelassen und ausgegrenzt fühlen“, so Helene Shani Braun.
Von deren Sorgen und Nöten erfährt Helene Shani Braun manches in ihrer seelsorgerischen Tätigkeit persönlich im Gespräch, vor allem aber in den verschiedenen Kanälen der Sozialen Medien, in denen sie präsent ist. Dabei hat sie nicht nur einen eigenen Blog und ist als Gründungsmitglied des Vereins Keshet (hebräisch für Bogen, auch für Regenbogen und damit für Vielfalt) aktiv, Sie hat nicht nur einen eigenen Blog, sondern wirbt auf allen Kanälen für die Gleichberechtigung von Menschen, die unter dem Begriff LBGBTQI zusammengefasst werden. Diese stehen für Lesbian, Gay, Bisexual, Transgender, Queer und Intersexual. „Die Kommunikation über das Internet ermöglicht vielen queren Menschen, sich mit ihren Nöten zu äußern, ohne persönlich in ihren Gemeinden anwesend zu sein.“ Das fordert Helene Shani Braun: „muss sich ändern.“ Mehr Teilhabe sei von den diversen Gruppen erforderlich, um die „teils überalterten Gemeinden“ neu zu beleben und ein modernes Judentum weiter zu entwickeln. „Ich empfinde es als Privileg, in einer Familie aufgewachsen zu sein, die mir die Tradition und den Glauben vermittelt hat.“ Und ein gehöriges Selbstbewusstsein, um ihr Anliegen, die Notwendigkeit „mehr Teilhabe“ unterschiedlicher Gruppen am Leben der jüdischen Gemeinden zu werben, um deren Zukunft in Deutschland zu sichern. „Ich bin stolz, eine jüdische Deutsche zu sein“, sagt sie.
Aber „Wird es jüdische Gemeinden in Deutschland noch in 50 Jahren geben?“ wird ihr eine Frage aus dem Publikum gestellt? Ist das „biologistische System“, dass nur Jude/Jüdin ist, wenn er/sie eine jüdische Mutter hat nicht grundsätzlich zu hinterfragen? Wie kann die Zukunft des Staates Israel aussehen, wenn orthodoxe Gruppierungen stärker werden? Wieso sollen für mich „uralte überlieferte Schriften mit ihren Vorschriften relevant sein und mir vorgeben, wie ich mein Leben zu führen habe?
Helene Shani Braun bleibt bei allen Fragen gelassen, hat keine endgültigen Antworten, gibt aber Denkanstöße. „Am Ende des Tages“- und das gilt für jeden – könne man das Gedachte und Erlebte neu definieren. Es könnte die Losung einer zukünftigen Rabbinerin sein. Denn „Am Ende des Tages“ waren ihr „die Fragen, die ihr in Ortenberg gestellt wurden, sehr wichtig. „Sie haben mich bereichert und ermuntert.“
Eine Frage hat sie denn nach der Veranstaltung zur jüdischen Geschichte von Ortenberg: „Gab es hier eine Mikwe?“ „Ja“, sagt Pfarrer Martin Schindel. Und es gibt sie noch. Öffentlich zugänglich ist sie allerdings nicht, da sich das kleine Gebäude im Privatbesitz befindet. Eine wichtige Information, die Helene Shani Braun mit nach Berlin genommen hat. Denn im Fokus ihrer wissenschaftlichen Arbeit hat sie für ihr weiteres Studium Geschichte und Gegenwart der jüdischen Ritualbäder. Und für sich persönlich: „Dass mich die Fragen, die gestellt wurden, darin bestärkt haben, wie wichtig mein Anliegen ist.“
Hilda Stern Cohen liebte die deutsche Sprache
Als der Schauspielerin Lilli Schwethelm “ das Anliegen angetragen wurde, über die Texte von Hilda Stern Cohen eine Lesung zu erarbeiten, empfand die Gründerin des „theaters mimikri“ den Auftrag „als sehr ehrenvoll.“ Der Auftrag kam von der der Ernst-Ludwig-Chambré-Stiftung und der Arbeitsstelle Holocaust-Literatur am Institut für Germanistik der Justus-Liebig-Universität Gießen. Das war 2004. Ein Jahr zuvor war von diesen ein Buch mit dem Titel „Genagelt ist meine Zunge in eine Sprache, die mich verflucht“ erschienen. Es enthält die Nachlasstexte von Hilda Stern. Geboren 1924 in Nieder-Ohmen war Hilda Stern als junge Frau Lehrerin an der Jüdischen Bezirksschule in Bad Nauheim. 1941 wurde sie ins Getto Lodz deportiert, später nach Auschwitz. Sie überlebte das KZ, emigrierte in die USA, heiratete dort. Erst nach ihrem Tod 1997 entdeckte ihr Ehemann, ebenfalls ein Überlebender des Holocaust, in der untersten Schublade ihres Schreibtischs 150 Gedichte und Prosafragmente in Schulheften. Über das Goethe-Institut in Washington gelangten sie an die Universität in Gießen.
„Die Überschrift des Buches ist der Titel eines Gedichts von Hilda Stern Cohen, dem wir für unser Programm übernommen haben. Dieses Gedicht ist deshalb so bedeutend, weil man sich klarmachen muss, dass die deutsche Sprache, die Hilda Stern Cohen sehr geliebt hat, zur Sprache der Mörder geworden war“, erläutert Lilli Schwethelm. „Eine bittere Erfahrung, die sie mit vielen jüdischen Autorinnen und Autoren teilte.“
Hilda Stern Cohen und ihr Mann haben niemals in Deutsch miteinander gesprochen.
Die Reihe „600 Jahre jüdisches Leben in Ortenberg“ wird am Sonntag, 23. Oktober, mit einem „Interreligiösem Konzert“ in der Marienkirche fortgesetzt. Dieses wird von Irith Gabriely (Klarinette), Thomas Wächter (Orgel) und Abuseyf Kinik (Sass, Percussion) fortgesetzt. Beginn ist um 17 Uhr. Die Veranstaltung wird von „Demokratie leben“ im Wetteraukreis unterstützt. Der Eintritt ist frei.