Der weinende Flaksoldat
Das Schwarz-Weiß-Foto des in einer zu großen Wehrmachtsuniform steckenden Jungen ist eins der weltweit verbreiteten Symbole für das Kriegsende im Frühjahr 1945. Landbote-Autor Michael Breuer hat sich intensiv damit beschäftigt. Er fand bisher Unbekanntes über den Ursprung dieser Aufnahme heraus. Und veröffentlichte nun ein Buch darüber. Am 8. Mai 2025 wird es in Hüttenberg-Rechtenbach vorgestellt.Furcht und Not am Kriegsende
„Der Junge aus dem Geschichtsbuch“ heißt das neue Buch. Präsentiert wird es am Donnerstag, 8. Mai 2025 ab 18.30 Uhr im Bürgerhaus von Hüttenberg-Rechtenbach bei Gießen. Der Eintritt ist frei.
Bei der Buchvorstellung wirken neben dem Autor Michael Breuer auch der frühere Bürgermeister Dr. Manfred Schmidt und der aus Rechtenbach stammende Pfarrer Helmut Hofmann mit. Die Moderation hat Gemeindearchivarin Christiane Schmidt. Die Begrüßung
erfolgt durch Bürgermeister Oliver Hölz.
Es ist in fast jedem Geschichtsbuch zu finden, und in vielen Dokumentationen und Internetseiten zum Zweiten Weltkrieg wird es gezeigt: Das Foto des weinenden, blutjungen Flaksoldaten in dem zu großen Luftwaffen-Mantel. Das verzweifelte Gesicht des 16-Jährigen wurde zum Symbolbild des Schreckens und der Sinnlosigkeit des Krieges. Das Porträt des Jungen wurde eines der berühmtesten Anti-Kriegsbilder der Welt.
Das Foto entstand in Rechtenbach
Im Jahr 2013 berichtete der Hüttenberger Journalist Michael Breuer in der Frankfurter Rundschau und der Gießener Allgemeinen darüber, dass dieses Foto des jugendlichen Flakkanoniers von dem US-
Kriegsfotografen John Florea in Rechtenbach aufgenommen wurde. Also nicht in Berlin oder Rostock – so wie es stets in den Jahrzehnten zuvor berichtet worden war.
Aus den Recherchen von Michael Breuer ergaben sich neue
Fragen zu den Fotos, denn es gibt mehrere Motive des weinenden
Kindersoldaten. Diesen Fragen ist der Autor des Buches „Der Junge aus dem Geschichtsbuch“ genau nachgegangen.
Breuer zufolge kann die Geschichte zu den Bildern so nicht stimmen. Es geht darum, dass womöglich absichtlich verschleiert worden sei, dass die Aufnahme – es gibt eine ganze Serie mit mehreren verschiedenen Motiven des verweinten Gesichts – im zwischen Gießen und Wetzlar liegenden Rechtenbach entstand.
US-Fotograf wurde mit dem Foto berühmt
Unstreitig ist, dass der amerikanische Fotograf John Florea den Jungen fotografierte. Er war Korrespondent des US-Magazin „Life“ und wurde später vor allem wegen seiner Aufnahmen von Hollywoodstars wie Marylin Monroe bekannt.
Dass das Bild in Rechtenbach im Hof seines Anwesens an der Frankfurter Straße gemacht wurde, daran hat der pensionierte Pfarrer Helmut Hofmann keinen Zweifel. „Mein Vater hat das berühmte Bild 1970 erstmals auf der Titelseite einer Jugendzeitschrift, die auf meinem Nachttisch lag, gesehen. Da hat er erzählt, dass der weinende Junge bei uns im Hof am 29. März 1945 fotografiert worden ist.“
An diesem Tag waren nach den Beschreibungen seines Vaters Friedrich rund 30 deutsche Gefangene von den Amerikanern in die von allen Seiten geschlossene Hofreite gebracht worden. Darunter sei auch der junge Flaksoldat Hans-Georg Henke aus Finsterwalde gewesen, der in Rechtenbach einquartiert gewesen sei.
US-Army stürmte deutsche Flakstellung
Die Geschützstellungen der Deutschen hatten die Amerikaner an diesem Tag nach harten Kämpfen eingenommen. Deswegen stand der 15- bis 16-Jährige wohl unter dem Eindruck und dem Schock der Kampferlebnisse, so Friedrich Hofmann, als der amerikanische Fotograf John Florea den 16-Jährigen in dem Hof fotografierte.
„Er hatte noch seine Luftwaffen-Uniform an, stand mitten in unserem Hof, zitterte, wimmerte vor sich hin und weinte sogar… Plötzlich kam ein amerikanischer Offizier mit einem Fotoapparat, kniete vor dem jungen Luftwaffensoldaten nieder und knipste ihn ganz aus der Nähe.“ So heißt es in dem Augenzeugenbericht von Friedrich Hofmann, der 1996 in dem Buch „Wetzlar 1945“ von Karsten Porezag und Diether Spieß veröffentlicht wurde.
Der Fotografierte nennt einen Ort bei Rostock
Bereits Jahrzehnte zuvor – 1972 – hatte Helmut Hofmann versucht, über die ansässige Lokalzeitung, die Geschichte ins rechte Licht zu rücken. „Ich wollte gerne wissen, wer der Junge war“, fasst er seine Gedanken von damals zusammen. Das Blatt recherchierte und kam zu dem Ergebnis, dass das Bild „in der Gegend von Berlin“ gemacht worden sei.
Der Fotografierte selbst, der weinende Kindersoldat Hans-Georg Henke, hat laut Breuer offenbar zeitlebens falsche Angaben über das Foto gemacht.
Nach seinen eigenen Schilderungen in der 1988 gedrehten DDR-Dokumentation (Defa-Film) „Zwei Deutsche“ entstand die Aufnahme am 1. Mai 1945 in der Nähe von Groß Lüsewitz im Landkreis Rostock. Hans-Georg Henke schildert dort seine Flucht vor der Infantrie der Roten Armee: „Man versuchte ja nur sein eigenes Leben zu retten, was anderes war ja gar nicht möglich bei so viel Beschuss… ich hatte Granatsplitterverletzungen… und dort – da muss – von einem Kameramann das Bild gemacht worden sein.“ Am 8. Mai sei er schließlich in sowjetische Kriegsgefangenschaft geraten.
Womöglich Teil der DDR-Propaganda
In einem Artikel der US-Zeitung „Herald Journal“ vom 26. März 1967 hat Hans-Georg Henke nach seinen Aussagen im Chaos von Flüchtlingen und Soldaten gar nicht bemerkt, dass er fotografiert worden sei. Er schildert allerdings detailliert, wie der Oberstleutnant der Flakbatterie die Soldaten fragt, ob sie lieber von den Amerikanern oder den Russen gefangen genommen werden möchten. Ohne Schuhe, nur mit Lumpen an den Füßen, so Henkes Schilderung in dem Artikel, habe er dann versucht amerikanische Linien zu erreichen. Schließlich sei er doch von den Sowjetsoldaten gefangen genommen worden. Hans-Georg Henke starb 1997 in Finsterwalde.
Laut Breuer könnte es Absicht gewesen sein, den Entstehungsort des berühmten Fotos in das spätere Gebiet der DDR zu verlegen. Henke – die bildliche Verkörperung eines sensiblen Helden – lebte ohnehin dort, und so könnte es offenbar angebracht gewesen sein, den Aufnahmeort des Bildes ebenfalls auf das Gebiet der damaligen Deutschen Demokratischen Republik zu verlegen. Auch hätte der sozialistische Staat im Sinne der Anlehnung an den jedenfalls verlautbarten Pazifismus an dem wichtigem Anti-Kriegsbild politisch teilhaben können. Darüber hinaus sei das Bild offenbar auch der persönlichen Karriere Henkes in der DDR durchaus dienlich gewesen.
1946 trat Henke in die KPD ein, die sich kurz darauf mit der SPD zur SED vereinigte. Henke ging zunächst zur Volkspolizei, wurde dann Industriekaufmann und schließlich Verwaltungsleiter des Krankenhauses in Finsterwalde.