Wie Kinder das Kriegsende erlebten
Von Klaus Nissen
Vor 80 Jahren glühte in den letzten Märztagen der Karbener Horizont. Die Dorfbewohner sahen den Widerschein der Feuersbrünste im zerbombten Hanau, Frankfurt, Friedberg und Bad Homburg. Auch in Karben gab es Tote. Die meisten Einwohner lebten vor und auch Jahre nach Kriegsende in Armut, voller Sorge um vermisste Angehörige. Für die Kinder war es eher ein Abenteuer, erzählen die letzten Zeitzeuginnen.In Karben kleiden Bauern Soldaten neu ein
In der gemütlichen Wohnküche von Renate Weber legt Horst Preißer vom Karbener Geschichtsverein einen Computer-Ausdruck auf den Tisch. 51 Männernamen stehen darauf. Jeder 13. Einwohner wurde im damals gut 660 Menschen zählenden Petterweil während des Krieges getötet. Viele so jung wie Erwin Lenhard, der 1944 kurz nach seinem 20. Geburtstag starb. Das älteste Kriegsopfer war 72. Der Bauer Heinrich Bieber geriet am 23. März 1945 mit seinem Ackergespann bei Petterweil ins Visier eines Tieffliegers.

Neben Horst Preißer sitzt Renate Weber auf der Küchenbank – eine lebhafte Frau mit kurzen grauen Haaren, der man ihren Geburtsjahrgang 1935 nicht glauben mag. „Ich bin auch ins Feuer geraten“, erzählt sie. Sie war sie mit ihrem Bruder Heinz auf dem Weg zur Okärber Mühle, um Mehl für den Backofen zu holen. „Auf einmal kamen die Tiefflieger. Wir warfen uns in den Graben, und links und rechts von uns schlugen die Kugeln ein. Aber wir hatten Glück und zuckelten einfach mit unserem Handkarren weiter.“
Verwandte und Fremde sind einquartiert
Renates Vater, ein Weißbinder aus Petterweil, kämpfte damals als Soldat in Finnland. Mit Mutter und Bruder lebte sie im Haus des Opas, der im Ersten Weltkrieg das Massaker von Verdun überlebt hatte. Nun, gegen Ende des Zweiten Weltkrieges, nahm er noch eine ältere Frau und eine Mutter mit zwei Buben auf. Und im Keller verstärkte er die Decke mit Balken – denn oft gab es Fliegeralarm. Dann flohen die Dorfbewohner nach unten.
„Ich musste da die Gasmaske aufsetzen“, erinnert sich Herta Peter. „Das war grauslich.“Sie ist eine Schulfreundin von Renate Weber. Ihre Familie betrieb den Lebensmittelladen Jann an der Alten Heerstraße. Schon deshalb mussten Herta Peter und ihre Familie nicht hungern – genauso wenig wie die anderen Petterweiler. „Es gab noch viele kleine Bauern“, sagt Herta Peter. „Fast jedes Haus hatte Schweine, Ziegen, Hasen, Hühner und einen Nutzgarten.“ Allerdings musste jede Schlachtung gemeldet werden, alles war rationiert. Ein Petterweiler habe deshalb seine „Hinkel“ heimlich auf dem Dachboden gehalten.

Vor und nach dem Kriegsende mussten die Kinder arbeiten. Renate Weber:„Wir sammelten Heilkräuter, die abgewogen und abtransportiert wurden. Auf dem Feld mussten wir Kartoffelkäfer einsammeln. Und Gift mit Löffeln in die Mäuselöcher stopfen.“
Die Dorfschule von Petterweil hatte zwei Klassen mit jeweils drei Jahrgängen. Wenn der Lehrer herein kam, musste man aufspringen und „Heil Hitler“ rufen, so die beiden alten Damen. Wer zu leise war, bekam hinterher eine Kopfnuss. Oft unterrichteten Hilfslehrer, beispielsweise Studenten. Am Ende der NS-Zeit fiel die Schule für ein halbes Jahr ganz aus.
Schlecht behandelte Gefangene rächen sich
Man habe eine tolle Dorfgemeinschaft gehabt, finden die beiden Zeitzeuginnen. Für Erwachsene war die Zeit hart. Aber die Kinder hatten viele Freunde, mit denen sie Abenteuer erleben konnten. Neben den einquartierten Flüchtlingen gab es die französischen und polnischen Kriegsgefangenen, die bei den Bauern arbeiten mussten. Sie waren im Saalbau Weber einquartiert. Meist gab es ein gutes Miteinander mit den Dorfbewohnern, erinnern sich Peter und Weber. Doch manche ließen die Gefangenen auch ihren rassistischen Hochmut spüren. Zum Glück kam es nach Kriegsende nicht wie anderswo zu Racheakten. In Eschbach seien damals Einheimische von befreiten Gefangenen ermordet worden.
Im Frühjahr1945 irrten viele Wehrmachtssoldaten durch die Wetterau. Die Bauern holten sie nach Erinnerung von Renate Weber und Herta Peter in ihre Häuser, gaben ihnen Zivilkleidung und Essen. Die meisten versuchten dann, sich in die Heimat durchzuschlagen.
Rüstungsbetriebe in Wohngebieten
Vor Kriegsende verlegten die Nazis manchen Rüstungsbetrieb in die Dörfer. In Petterweil waren Ingenieure der Stahlbaufima Fries in Baracken untergebracht. Im Groß-Karbener Taunusbrunnen produzierten die Frankfurter Torpedo-Werke seit Ende 1943 Waffen. Die Bomben verschonten sie. Über Rendel fielen aber am 18. März – eine Woche vor Eintreffen der US-Bodentruppen – drei Bomben. Eine traf an diesem Sonntagmorgen um elf das Haus von Elise Lenhard, Babette und Karl Beck an der Mittelgasse. Sie starben – auch Gertrud Schießl, die gerade ein Ei für ihr Kind kaufen wollte. Und Elise Schwarzhaupt, die im Moment des Einschlags gegenüber auf der Treppe des Nachbarhauses saß. Stephan Kuger von der evangelischen Kirchengemeinde hat diesen tragischen Moment dokumentiert.
Nach Kriegsende warteten hunderte Familien in Karben vergebens auf die Rückkehr ihrer jungen Männer. Der Alltag blieb bis in die Fünfzigerjahre mühsam. Man war auf sich gestellt. Erst 1953 fuhren von Petterweil die ersten Busse der Linie 65 bis Bad Vilbel.
Nur Bella Vogt kehrte zurück
Viele jüdische Familie lebten bis 1933 in Karben. Wer dann nicht auswanderte, wurde spätestens am 15. September 1942 in die Vernichtungslager deportiert. Was mit ihnen geschah, erforschte erst ab 2007 die Initiative „Stolpersteine in Karben“. Sie sorgte mithilfe der Stadtverwaltung dafür, dass 61 Stolpersteine auf das Schicksal der Vertriebenenhinweisen.

Besonders viele dieser Messingtafeln liegen im Bürgersteig der Karbener Bahnhofstraße. Dort, ins Haus Nummer 31 von Isidor Kahn, zog 1919 seine damals 26-jährige Nichte Bella Vogt mit ihrem Mann Karl ein. Weil der als „Arier“ eingestuft war, blieb die Gattin des Reichsbahn-Beamten zuerst geschützt.

Doch 1945 wollten die Nazis auch die letzten Juden vernichten. Bella Vogt musste am 14. Februar 1945 morgens um fünf in Nieder-Wöllstadt einen aus Gießen kommenden Zug voller „jüdischer Mischehepartner“ besteigen. In Vilbel nahm er weitere Juden auf. Abends wurden sie über die Viehrampe des Frankfurter Großmarktes in Güterwaggons getrieben und mit Ketten eingeschlossen. Am brennenden Dresden vorbei fuhr der Zug fünf Tage und Nächte lang bis ins ins Lager Theresienstadt. Bella Vogt wurde da zum Putzen und zum Bügeln von SS-Uniformhemden eingeteilt. Im Mai 1945 befreiten russische Soldaten die überlebenden Juden. Nach dem Ende der Typhus-Quarantäne kehrte Bella Vogt Ende Juni zu ihrem Mann in die Karbener Bahnhofstraße zurück. Dort lebte sie noch bis 1977.