Wer der weinende Junge wirklich war
Von Bruno Rieb
Landbote-Autor Michael Breuer hat ein Buch über eines der berühmtesten Antikriegsbilder der Welt geschrieben: „Der Junge aus dem Geschichtsbuch“. Er enthüllt, wer der weinende Kindersoldat Hitlers wirklich war.Der Junge aus dem Geschichtsbuch
Das Foto von dem weinenden Flaksoldaten mit dem zu großen Soldatenmantel war auch in Breuers Geschichtsbuch. „Ich hätte nie erwartet, dass mich je etwas mit diesem Jungen verbinden würde – außer natürlich dem unvergesslichen Ausdruck seines Gesichts. Erst recht nicht hätte ich erwartet, mit diesem Foto im Sinne von wahr und unwahr etwas zu tun zu bekommen. Als es aber passierte, da fühlte ich mich in der Verantwortung, dafür zu sorgen, dass die neuen Erkenntnisse sorgfältig und im Zusammenhang sichtbar gemacht werden“, schreibt Breuer. Das tut er in seinem Buch recht gründlich.
Der DDR-Bürger Hans-Georg Henke hatte behauptet, der Junge auf dem Foto zu sein und wurde mit dieser Geschichte berühmt. Breuer weist nach, dass es nicht Henke war, sondern Günther Herma, der wahrscheinlich in französischer Kriegsgefangenschaft gestorben ist.
Gefangen im Hof in Rechtenbach
Der entscheidende Hinweis für Breuers Recherchen kam von einem Mitbürger seiner Wahlheimat Rechtenbach. Friedrich Hofmann berichtete, was er am Gründonnerstag, 29. März 1945, gesehen hatte. Nachdem die US-Streitkräfte das Dorf eingenommen hatten, seien Kriegsgefangene im Hof seiner Hofreite untergebracht worden. „Unter den deutschen Gefangenen im Hof befanden sich auch blutjunge Flaksoldaten, die seit einiger Zeit in Groß- und Kleinrechtenbach in Privatquartieren gelegen hatten, deren Geschützstellungen aber mehr in Richtung Gießen lagen. Einer von ihnen – er mag kaum älter als 15 Jahre gewesen sein – war in besonders schlechter physischer und psychischer Verfassung. Er hatte noch seine Luftwaffen-Uniform an, stand mitten in unserem Hof, zitterte, wimmerte vor sich hin und weinte sogar. Er stand wohl noch voll unter dem Eindruck der Kampferlebnisse dieser Stunden. Plötzlich kam ein amerikanischer Offizier mit einem Fotoapparat, kniete vor dem jungen Luftwaffensoldaten nieder und knipste ihn ganz aus der Nähe. Dies wurde das weltberühmte Foto eines weinenden fünfzehnjährigen deutschen Luftwaffensoldaten, welches später zigtausendfach um die Welt gehen sollte.“
Das Bild wurde von dem US-amerikanischen Fotojournalisten John Florea aufgenommen. „Supermänner weinen – einer war ein 15-jähriges Kind“, notierte er zu seinen Negativen. Breuer schildert ausführlich, was sich in diesen Tagen in und um Rechtenbach abspielte. Spannend sind dabei die Aufzeichnungen von Florea über den Vormarsch der US-Armee, die Breuer unter der Überschrift „Immer zügig unterwegs mit der 9. Panzerdivision“ mit zahlreichen Fotos von Florea dokumentiert. Der Fotograf arbeitete damals für das populäre US-Magazin „Life“. Später wurde er durch seine Bilder von Marilyn Monroe und anderen Leinwandgrößen bekannt. Er wurde Regisseur und Produzent von Fernsehserien wie „Daktari“ und „Bonanza“.
Akribische Suche nach dem Jungen vom Foto
Die DDR-Zeitschrift „Freie Welt“ hatte 1965 den Menschen gesucht, den das Bild vom weinenden Kindersoldaten zeigt. Hans-Georg Henke hatte sich gemeldet und war daraufhin zum Star von Medien in aller Welt geworden. Henke behauptete, das Foto sei am 1. oder 2. Mai 1945 kurz vor seiner Gefangennahme in der Nähe von Rostock entstanden. Allerdings ist das Foto bereits am 9. April 1945 in der „Washington Post“ veröffentlicht worden. Wenn es so gewesen wäre, wie Henke behauptet, „dann wären die Fotos noch bevor sie überhaupt gemacht wurden, in der Zeitung veröffentlicht worden“, merkt Breuer ironisch an. Anhand der Bilder von Florea weist Breuer nach, dass sie nicht in der Nähe von Potsdam, sondern in der Hofreite in Rechtenbach aufgenommen wurden. Eine Backsteinmauer auf einem der Fotos entspricht exakt der heute noch in der Hofreite vorhandenen.
Breuer ist bei seinen Recherchen auf eine andere Spur gestoßen. Die westdeutsche „Neue Illustrierte Revue“ hatte im Juni 1967 berichtet, der Junge auf dem Foto sei der vermisste Günther Herma aus dem ehemaligen Bielitz in Schlesien, heute das polnische Bielsko. Seine Eltern hätten ihn auf dem berühmten Foto erkannt. Diesem Hinweis ging Breuer nach. In seinem Buch dokumentiert er seine geradezu kriminalistische Spurensuche. Hermas Eltern waren inzwischen gestorben. Über Meldeämter spürte Breuer Verwandte auf und erhielt von ihnen Fotos, die Herma im Kinder- und Jugendalter zeigen. Diese Fotos sind laut Breuer „tatsächlich der zentrale Beleg dafür, dass der vermisste und für tot erklärte Günther Herma der weinende Junge auf den bedeutenden Aufnahmen von John Florea ist. Die Fotos belegen sehr eindeutig, dass über viele Jahrzehnte ein Irrtum verbreitet worden ist.“
Kein Zweifel an der Bedeutung des weltbekannten Bildes
Es bleiben allerdings noch Fragen offen: War die Flakeinheit, bei der Herma laut seinen Eltern eingesetzt war, Ende März 1945 bei Rechtenbach stationiert, und wo ist Herma nach seiner Gefangennahme durch die US-Streitkräfte geblieben? Breuer vermutet, dass er in französische Gefangenschaft überführt wurde und dort starb. Ein Widerspruch ist auch, dass der fotografierte Kindersoldat laut Florea 15 Jahre alt war, Herma an diesem Tag aber 16 Jahre alt war und zwei Wochen später 17 geworden wäre.
Breuer lässt – bei aller Recherche, wer auf dem Foto wirklich zu sehen ist – keine Zweifel an der Bedeutung des weltbekannten Bildes: Es ist Symbol für eine Generation, die ihrer Jugend beraubt wurde, die Kanonenfutter war. „Für die tatsächliche und immergültige Botschaft des bewegenden Fotos von dem verzweifelten, in Tränen aufgelösten Heranwachsenden – noch ein Kind – ist der Ort der Entstehung des Bildes oder der Bilder daher völlig bedeutungslos. Ob sie nun in Mecklenburg-Vorpommern oder in Hessen aufgenommen wurden – der Ausdruck von höchster Verzweiflung, Not und nackter Angst ist eine immerwährende Mahnung vor den Schrecken des Krieges.“
Michael Breuer: „Der Junge aus dem Geschichtsbuch – Berühmte Fotos neu belichtet“, gebunden, 168 Seiten, zahlreiche Abbildungen, 23 Euro, ISBN 978-3-00-082376-3.
Titelbild: Zwei weitere Fotos, die John Florea vom weinenden Kindersoldaten in der Hoffreite in Rechtenbach aufgenommen hat. Jeweils links die markante Backsteinmauer.