Sprechstunde der Gebärdendolmetscherin
von Jörg-Peter Schmidt
Nicht überall ist es erwünscht, wenn man heftig gestikuliert, sozusagen mit den Händen und Füßen redet. Ganz anders ist dies beim Termin in einem Büro am Riversplatz in Gießen, zu dem die Kreisverwaltung jeden ersten Donnerstag im Monat um 14 Uhr einlädt: Dann haben hörbehinderte und gehörlose Menschen die Möglichkeit, mit der Gebärdensprachdolmetscherin Theresia Möbus zu kommunizieren und ihr Anliegen vorzutragen. Der Neue Landbote hat es sich angeschaut.
Nur wenige können Gebärdensprache
Kürzlich hatte sich das Ehepaar Ursula und Christoph Kramer-Rouette aus Fernwald zu dem Behördentermin angemeldet und zugestimmt, dass die Presse dabei sein konnte. Für Auskünfte standen neben der Dolmetscherin auch der Hauptamtliche Kreisbeigeordnete Dirk Oßwald und der zuständige Leiter des Teams Inklusion, Marc Apfelbaum, zur Verfügung.
Das Ehepaar hatte den Termin in Vertretung von an diesem Tag verhinderten Freunden vereinbart, die ebenfalls gehörlos sind und eine Frage wegen eines Antrags hatten. Nachdem die beiden von Frau Möbus die erwünschten Informationen erhalten hatten, schilderten sie, wie schwierig ihr Alltag ist, denn: Es gibt nur wenige Mitbürger, die mit Gehörlosen in der Gebärdensprache kommunizieren können. Dieses bedeutet Einschränkungen beim Einkaufen, am Arbeitsplatz, bei Ärzten oder beim Besuch von Behörden, deren Amtsdeutsch schon für Hörende oft Schwierigkeiten bereitet. Hauptamtlicher Kreisbeigeordneter Oßwald berichtete , dass sich der Beirat für die Belange von Menschen mit Behinderung im Landkreis Gießen vor knapp zwei Jahren intensiv mit diesem Problem beschäftigt hat. Die Sprechstunde für Gehörlose ist seitdem beim Landkreis als zusätzliches Angebot eingeführt und eine wichtige Unterstützung bei der Bewältigung von behördlichen Fragestellungen“, machte Oßwald deutlich.
Barrierefrei Kommunikation ist Pflicht
Gibt es für hörbehinderte Menschen die Möglichkeit, außerhalb des monatlichen Termins persönlich beim Kreis Auskünfte zu erhalten und Auskünfte zu bekommen? „Dies ist möglich“, sagt Teamleiter Apfelbaum. Er erklärte: „Der Landkreis Gießen versucht, den Betroffenen entgegenzukommen, wo es nur möglich ist. Die regelmäßige Sprechstunde ist nur ein Angebot im Bereich der Inklusion.“ Ohnehin seien Behörden wie die Kreisverwaltung gesetzlich verpflichtet, den Bürgern eine barrierefreie Kommunikation zu ermöglichen. Wenn notwendig, stellt der Kreis auf vorherigen Antrag auch für individuelle Termine in den verschiedenen Fachabteilungen eine Dolmetscherin oder einen Dolmetscher zur Verfügung und setzt sich zur Unterstützung der Gehörlosen gegebenenfalls auch mit anderen Ämtern in Verbindung. Auf Antrag übernimmt der Kreis hierfür die Kosten für die Dolmetscher.
Theresia Möbus bedauert, dass es in Mittelhessen nur wenige Fachleute gibt, die die Gebärdensprache ausreichend beherrschen. Außerdem wäre sie froh, wenn die Angebote beispielsweise von Volkshochschulen mehr genutzt würden, um diese Kommunikation mittels Gebärden, Mimik, Gestik und Mundbild zu erlernen – auch von Menschen, deren Gehör intakt ist.
Hessen erlaubte als erste Land Gebärden im Unterricht
Theresia Möbus erläuterte, dass der spanische Mönch Pedro Ponce de León im 16. Jahrhundert einer der ersten war, der gehörlose Kinder unterrichtete. 1870 auf dem Mailänder Kongress wurde leider festgelegt, dass in den Schulen keine Gebärden benutzt werden dürfen. Erst Ende des 20. Jahrhundert war Hessen das erste Bundesland, das Gebärden im Schulunterricht erlaubte. Die Gebärdensprache wird weltweit von Fachleuten ständig erweitert und verfeinert.
Wie viele gehörlose Menschen gibt es offiziell? Laut einer Schätzung gab es deutschlandweit 1990 rund 80 000 Gehörlose, davon 6000 in Hessen. „Allerdings ist dies nur die offizielle alte Zahl“, so die Gebärdensprachdolmetscherin. Ihrer Meinung und Erfahrung nach gibt es heute weniger Gehörlose. Dafür nimmt die Zahl der Menschen zu, die hörbehindert sind.
Weitere Informationen zum Thema Gehörlosigkeit kommen von Dr. Sabine Wendt aus Marburg. Sie ist Vorsitzende des Ortsvereins Gießen des Deutschen Schwerhörigenbundes (DSB) e.V. und arbeitet im Landkreis Gießen im Arbeitskreis zur Umsetzung des Behindertengleichstellungsgesetzes mit. Eine Zusammenarbeit erfolgt im Beirat für die Belange von Menschen mit Behinderungen, der von Marc Apfelbaum koordiniert wird. „Wir untersuchen alle Kreiseinrichtungen, vor allem Schulen auf ihre Barrierefreiheit“, berichtet sie und fährt fort: „Für Hörgeschädigte geht es dabei um die Akustik in den Räumen und gegebenenfalls die Verlegung einer Induktionsschleife, die den Schall des sprechenden Lehrers (oder Pfarrers in Kirchen) per Funk direkt in das Hörgerät überträgt.“
Unterschiedlicher Hilfsbedarf
Dr. Wendt erläutert: „Die Lebenssituaton von Schwerhörigen ist eine andere: Während für die Gehörlosen die Gebärdensprache das wichtigste Kommunikationsmittel ist, können die meisten Schwerhörigen diese nicht. Durch das Cochlear-Implant hat sich allerdings die Situation verändert: Viele, die als Kinder gehörlos waren und gebärdet haben, können jetzt mit diesem Instrument hören. Dieser Personenkreis kann dann aber sprachliche Verständigungsschwierigkeiten haben, wenn als gehörloses Kind die Sprachförderung nicht ausreichend war und logopädische Leistungen nicht ausreichen. Dann wird auch für diese Menschen eine Assistenz bei Behördengängen etc. benötigt. Am Arbeitsplatz übernimmt dies der Integrationsfachdienst, der von den Integrationsämtern bezahlt wird, bei dem z.B. Theresia Möbus beschäftigt ist. Die Schwerhörigen sitzen also zwischen allen Stühlen – der Hilfebedarf kann lebensgeschichtlich sehr unterschiedlich sein.
Informationen zur Gehörlosensprechstunde in der Kreisverwaltung und weitere Unterstützung und Hilfen für Menschen mit Behinderungen gibt es bei Marc Apfelbaum unter Telefon: 0641 9390-9431, E-Mail: marc.apfelbaum@lkgi.de.