Alles zurückgelassen, was ich besaß
„Und dann fällte ich die Entscheidung meines Lebens: Mein Land zu verlassen, und alles zurückzulassen, was ich besaß“, schreibt Fidaa Dahoud. Sie stammt aus Tartus in Syrien. Sie hat in Deutschland Asyl beantragt, lebt derzeit in Wetzlar und schreibt in literarischer Form exklusiv für den Neuen Landboten. Der Text wurde von Michael Schlag aus dem Englischen übersetzt.
Flucht ist keine freie Entscheidung
Schon als Kind habe ich versucht, mir ein Land vorzustellen, das mir neue Wege weist, das mir Anerkennung gibt, wenn ich ein Liebesgedicht schreibe und mir erlaubt so zu leben, wie die Vögel über den Bäumen.
Heute versuche ich, mir ein Land vorzustellen, das sich nicht zwischen mich und meine Gedanken stellt. In dem Freunde offen sprechen können, ohne Angst vor Spitzeln, ohne Misstrauen. Ein Land, das die Freiheit des Wortes liebt, auch wenn es ärgerlich oder zornig ist. Ich versuche, mir eine Stadt voller Liebe vorzustellen, wo Weiblichkeit nicht getötet und der Körper nicht verdammt wird. Ich versuche, mir vorzustellen, wie Heimat aussieht. Denke an den sicheren Platz im Mutterleib, an unbeschwerte Kindheit, schwimmen gegen die Strömung im Fluss, stibitzen von Pfirsichen, Zitronen und Feigen. Wir wollten fliegen, wie Vögel im Kielwasser der Schiffe. Aber dann wache ich auf, und merke, dass es nur ein zerbrechlicher Traum war: kein Mond am Himmel, kein Fisch im Wasser, kein Frühstück im Garten.
Wo Gedanken zu Stein werden
Ich versuche, meine Palette von Farben und mein Saatgut für Blumen zu behalten. Aber die Menschen in meiner Stadt verbrennen meinen Malkasten und zertreten die Pflanzen. Ich suche nach einem Leben jenseits der engen Normen, nach Liebe abseits der vorgeschriebenen Rituale. Ich suche nach der Liebe irgendwo im Exil, eine Liebe, die mich die Erde meines Heimatlandes spüren lässt.
Heute bin ich lange erwachsen, aber das Kind in mir klagt und lehnt sich auf gegen die Herrschenden in meinem Land. Ich wuchs heran und jedes weitere Jahr zerschlug meine Träume an den Felsen des Alltags. Ich wuchs heran in einem Land, wo Denker ermordet werden, wo Schriftsteller als treulos gelten, wo man Bücher verbrennt. In einer Gesellschaft, wo jedes Anderssein verleugnet wird, wo die Münder verschlossen sind, wo Gedanken zu Stein werden und wo man keine Fragen stellt.
Ich wuchs auf und wusste, mein Land würde mir nie erlauben, meine Kinder so zu erziehen, wie ich es möchte; unbelastet von Willkür und Befehlen. Mein Land würde mir nie erlauben, meiner kleinen Tochter beizubringen, dass Religion eine Sache von Anstand und Respekt ist, von Treue und Wahrheit, bevor sie den schwarzen Schleier überziehen muss. Sie würden mir nie erlauben, meine Tochter zu lehren, dass Gott eifriges Bemühen und fleißiges Lernen mehr anerkennt, als die Suren des Koran auswendig zu lernen, ohne ihren Sinn zu verstehen.
Menschlickeit zu fordern, gilt als Verbrechen
Mein Land würde mir auch nie erlauben, meiner Tochter beizubringen, dass ihr christlicher Freund kein Ungläubiger ist und dass sie nicht vor Angst zittern muss, dass er in der Hölle endet. Sie werden mir nicht erlauben, ihr beizubringen, dass Gott Liebe ist, dass sie mit ihm sprechen kann, dass sie ihn fragen kann, was immer sie will, ganz gleich, was andere ihr davon erzählen.
Ich komme aus einer Gesellschaft, die Dich ins Gefängnis wirft, wenn Du nach deinem Recht auf Freiheit fragst. Menschlichkeit zu fordern, allein das gilt schon als Verbrechen, aber die Freiheit in mir selbst ist größer als dieses Gefängnis. Und dann fällte ich die Entscheidung meines Lebens: Mein Land zu verlassen, und alles zurückzulassen, was ich besaß: meine Familie, meine Freunde, mein Heim, meine Seele, meine Erinnerung, eine unvollendete Liebesgeschichte, und auszubrechen in ein unbekanntes Schicksal. Aber Flüchtling zu sein war keine freie Entscheidung.
Geschätzter Landbote,
der Beitrag von Fidaa Dahoud hat mich stark berührt. Die Lebensgeschichte dieser starken Frau erklärt beispielhaft die Gründe dieser Massenflucht aus einer Region, die lebenswert sein könnte … wenn sich die alten und die neuen „Weltmächte“ dort nicht fortwährend einmischten.
Ich freue mich auf weitere Texte von Fidaa Dahoud
Ich danke Nidda Dahoud für ihren literarischen Beitrag, der uns ermöglicht neben den täglichen Nachrichten einen tieferen Einblick in die Seele und das Leben einer Flüchtlingsfrau zu bekommen. Frau Dahoud leistet damit einen wichtigen journalistischen Beitrag um Aufklärung zu leisten und Verständnis zu wecken – ich kann nur hoffen, dass ihr Artikel von möglichst vielen gelesen wird, vor allem auch von denjenigen in unserer Gesellschaft, die angesichts der stetig wachsenden Flüchtlingszahl an die Grenzen ihrer Toleranz stoßen. Sicherlich wird die junge Journalistin uns in einem ihrer nächsten Beiträge über entsprechende Erfahrungen in unserer Gesellschaft berichten…man darf gespannt sein.