Warum viele Erdogan mögen
Von Klaus Nissen
Was denken die Wetterauer mit türkischen Wurzeln über Präsident Erdogan? Es sind immerhin mehr als 10 000 Menschen im Landkreis, von denen viele am 16. April beim Referendum über die türkische Verfassung abstimmen. Sind sie empört, wenn Erdogan die Deutschen als Nazis beschimpft? Glauben sie auch, dass in der Türkei eine Diktatur heranreift? Eine Umfrage des Landboten brachte widersprüchliche Antworten. Einig waren sich alle jedoch in einem: Die Deutschen trugen viel dazu bei, dass Erdogan in der Türkei immer mächtiger wird.
Deutsche Türken
Die Recherchereise beginnt in Altenstadt. Weil es gerade ruhig ist im Cihan-Eck, hat der Imbiss-Wirt Gökmen Cihan ein paar Minuten Zeit für die Politik. Sein Vater kam als 17-Jähriger zum Arbeiten nach Deutschland und ist jetzt Rentner in Altenstadt. Sohn Gökmen, 36, hat einen deutschen Pass. „Ich habe mehr deutsche als türkische Freunde“, sagt er. Und kann Recep Tayyip Erdogan nicht recht leiden. Er findet es gut, dass die Niederländer Wahlkampf-Auftritte der türkischen Minister verboten. Dass Erdogan politische Gegner als Terroristen verunglimpfen und sogar schlagen lasse – „das ist doch nicht menschlich!“. Die neue Verfassung wird es Erdogan nach Ansicht des Altenstädters ermöglichen, eine neue Dynastie zu errichten – „so wie damals im osmanischen Reich. Wenn Erdogan mal abtritt, dann kommt sein Sohn an die Macht.“ Gökmen Cihan glaubt, dass frühere türkische Regierungen vielleicht schwächer waren als Erdogan. „Aber die haben die Türkei wenigstens nicht an fremde Länder verkauft“. So habe die aktuelle Regierung arabische Investoren ins Land gelassen und undurchsichtige Geschäfte getätigt. All das könne man hier in Deutschland wohl sagen – doch in Istanbul wäre er sicherheitshalber nicht so auskunftsfreudig, sagt Gökmen Cihan.

Weiter nach Büdingen. In der Nähe des Bahnhofs liegt in einem Hinterhof das große, blitzblanke Gebäude der türkisch-islamischen Gemeinde. Gerade ist der Spiel-Nachmittag für die Kleinkinder aus der 105 Mitglieder starken Gemeinde zu Ende. Orhan Bilal Ayyildiz und seine Frau Kadriye holen ihre beiden Kinder ab. Das in Büdingen lebende Paar betreibt in Bayern eine Fabrik für türkische Süßwaren. Ayyildiz ist seit zehn Jahren in Deutschland und wird am 16. April mit „Ja“ für die auf Erdogan zugeschnittene Präsidialverfassung stimmen. „Ich würde das auch, wenn ich könnte“, sagt die Ehefrau Kadriye. Aber die gelernte Architektin mit dem langen schwarzen Kleid und dem Hidschab hat einen deutschen Pass. Wahrscheinlich wegen ihres Aussehens habe man sie vorige Woche bei der Ankunft aus Istanbul gleich dreimal auf dem Frankfurter Flughafen kontrolliert, sagt die 35-Jährige. „Und wenn ich Ja zur Verfassungsänderung sage, werde ich hier für dumm gehalten“. Das ärgert Kadriye Ayyildiz. Die Deutschen versuchten den Türken einzureden, was gut für sie sei. Und verhinderten, dass türkische Minister den 1,5 Millionen Wahlberechtigten in Deutschland erklärten, was es mit der neuen Verfassung auf sich habe. Sie habe doch selbst gesehen, wie positiv sich die Türkei in den letzten Jahren entwickelt habe. Und mit der angeblichen Unterdrückung der Kurden könne es nicht weit her sein, wenn Erdogans Regierungschef Yildirim selbst ein Kurde sei.
Nur eins findet Kadriye Ayyildiz nicht so gut: Die Nazi-Vergleiche des türkischen Präsidenten. Sie seien wohl dem Eifer des Wahlkampfs geschuldet. Die Türken, selbst in ihrer eigenen Familie, seien in der Frage der Verfassungsänderung unterschiedlicher Meinung. Doch allen sei ein gutes Verhältnis zu den Deutschen wichtig.
„Erdogan lässt sich nichts gefallen“
Die junge Friseurin trägt keinen Hidschab. Auch sie hat einen deutschen Pass und darf nicht abstimmen. Aber sie hätte für Erdogan gestimmt, bekennt die 27-Jährige, während sie dem Journalisten in einem Salon in der westlichen Wetterau den Haarschopf stutzt. „Erdogan hat ein krasses Durchsetzungvermögen und lässt sich nichts gefallen“. Das habe ihr imponiert, sagt die bei Büdingen aufgewachsene Frau. Unter der AKP-Partei sei aus der Türkei ein modernes Land mit guter Infrastruktur geworden. Auch wenn die Deutsch-Türken über Facebook kontrovers darüber diskutieren – sie glaube nicht, dass die Türkei gerade zur Dikatur werde. Erdogan werde auch nicht alle Frauen dazu zwingen, ein Kopftuch zu tragen. „Krass“ findet die junge Frau allerdings, wenn türkische Regierungsvertreter Leute mit anderer politischer Meinung gleich als Terroristen abstempeln. Oder wenn sie deutsche Regierungsmitglieder als Nazis bezeichnen.
Der Chef der jungen Friseurin findet das auch krass. Ansonsten hegt der Mittvierziger für Erdogan nicht die geringste Sympatie. „Weil er überhaupt nicht die Menschenrechte achtet.“ Bei den Aktionen der türkischen Regierung gegen Kurden seien viele unschuldige Menschen ums Leben gekommen. Und weil er die Kurden jetzt mundtot gemacht habe, brauche Erdogan einen neuen Feind – die Deutschen und die Europäische Union. Erdogan brauche für seine Verfassungsreform die Stimmen der Auslandstürken – „denn wenn er verliert, muss er ins Gefängnis. Alle Leute aus der Regierung sind zu Millionären geworden“. Sie hätten sich auf Kosten des türkischen Volkes bereichert.
Leider schauten die meisten Menschen nicht genau hin und ließen sich nur vom starken Auftritt Erdogans beeindrucken, statt die Verfassung genau zu lesen. Das sei andererseits auch verständlich, findet der Friseurmeiste. Weil Erdogan sich nichts gefallen lasse. Er bringe ihnen ein besseres Selbstwertgefühl. Denn die Deutsch-Türken fühlten sich chronisch erniedrigt:. „Auch wenn ich seit 20 Jahren hier lebe und meine Steuern zahle, lassen mich die Deutschen immer wieder fühlen, dass ich in ihren Augen ein Ausländer bin.“
„Integration hat es hier nie gegeben“
Recep Kaplan kam als Zwölfjähriger nach Deutschland. Der Friedberger ist seit 1998 ehrenamtlicher Ausländerbeauftragter des Wetteraukreises. Er hat einen türkischen Pass und wird am 16. April für Erdogan stimmen, sagt er. Klar, es gebe viele Diskussionen unter den Deutschtürken und auch mit seinen deutschen Arbeitskollegen auf dem Flughafen, erzählt der 48-Jährige. Aber Freundschaften werde kaum jemand deswegen aufs Spiel setzen. Und am Ende werde Erdogans Verfassungsreform gelingen. In deutschen Medien stelle man den Präsidenten als Diktator dar – das sei er aber nicht. „Die Türkei bleibt ein Rechtsstaat“, glaubt Recep Kaplan. Dass Erdogan so ein beliebter Präsident wurde, könnten sich die Deutschen auf die eigene Fahne schreiben: „Die Europäische Union hat die Türken 60 Jahre lang vergeblich auf ihre Aufnahme in der EU warten lassen. In Deutschland redet man viel von Integration, aber es hat nie eine gegeben. Ich darf zum Beispiel nach 36 Jahren in Deutschland noch immer nicht zur Kommunalwahl gehen, während mich gerade eingereiste Kollegen aus Bulgarien oder Rumänien fragen, was es denn mit dem Wahlzettel auf sich hat.“
Es sei auch nicht in Ordnung, dass die Deutschen in der Türkei penibel auf die Einhaltung demokratischer Regeln pochen, während sie gleichzeitig den Diktator in Ägyptens Hauptstadt Kairo hofieren – damit er ihnen Flüchtlinge vom Hals hält und deutsche Waren kauft. „Es wird mit zweierlei Maß gemessen“, findet Recep Kaplan. Und darin ist er sich mit allen befragten Deutsch-Türken einig.