Ein jüdischer Weg

Nicht die Einsamkeit zu suchen

von Petra Ihm-Fahle

Diese Erinnerung an den verstorbenen Monik Mlynarski, langjähriger Vorsitzender der jüdischen Gemeinde Bad Nauheim, ist ein Auszug aus dem Buch „FEST zu – Pack aus! Das Multi-Kulti-Family-Projekt aus Bad Nauheim“ der Kulturgruppe Die Verdichter. Der Neue Landbote veröffentlicht den Beitrag erstmals online anlässlich des Festjahres „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“.

Ein jüdischer Weg: Monik Mlynarski (Foto: Petra Ihm-Fahle)
Ein jüdischer Weg: Monik Mlynarski (Foto: Petra Ihm-Fahle)

Nachdem unser erstes Buch „Das Leben ist kein Sprudelhof“ erschienen war, hatte die Kulturgruppe Verdichter zunächst geplant, ein Buch über Weihnachten zu schreiben. „Wunderliche Weihnachten – Geschichten aus der Weihnachtswunderstadt Bad Nauheim“ sollte es heißen. Daher interviewte ich Monik Mlynarski (1923-2016) zum Thema des Lichterfests Chanukka, das die Juden zeitnah zu Weihnachten zelebrieren.

Es war am 1. April 2015, kurz vorm Pessachfest; wir kamen allerdings nicht weit mit unseren Aufzeichnungen.

Monik Mlynarski erzählte

Herr Mlynarski, der langjährige Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Bad Nauheim, und ich saßen im Gemeindesaal der Synagoge, der „Restaurant“ genannt wird. Vor mir stand mein Laptop, er erzählte und ich tippte mit.

Chanukka gefeiert

„Weihnachten ist ein schönes Fest“, sagte er. „Als Kind, schon als Junge fand ich das. Ich habe als Kind schon das ganze Jahr darauf gewartet. Wir haben Chanukka gefeiert, aber auch die christlichen Weihnachtsfeiertage. In der Schule hat jeder ein großes Paket zu Weihnachten bekommen, es war eine christliche Schule, und ich war keine Ausnahme.“

Öl reicht für acht Tage

Chanukka und Weihnachten seien zwei Paar Schuhe. Chanukka sei das Wunder, das Kerzenwunder. „Damals hatten sie Kämpfe, es war Dunkelheit, sie hatten Öl gefunden, das nur für einen Tag gereicht hätte, aber es reichte für acht Tage“, sagte er. Er fügte hinzu: „Ich habe es auch schon versucht, aber es hat nicht geklappt.“ Bei solchen Sätzen huschte ein Lächeln über das Gesicht von Herrn Mlynarski, der einen ausgeprägten Humor hatte und gern jüdische Witze erzählte.

Es gibt kein jüdisches Weihnachten

Wie er schilderte, zündet man an Chanukka Tag für Tag eine Kerze nach der anderen oder auch Öllämpchen an. Neun Stück. Chanukka sei meistens im Dezember. „Zu sagen, Chanukka ist das jüdische Weihnachten, stimmt nicht“, erklärte er. Chanukka habe mit Weihnachten nichts zu tun; es gebe kein jüdisches Weihnachten. „Es gibt den Ausdruck Weihnukka. Die jüdische Sprache ist ein Jargon, der vom Schwabenland kommt. Die Christen sagen auch Guten Rutsch, das kommt vom jüdischen Wort Rosch Haschana – Kopf des Jahres.“

Zu Gast bei Monik Mlynarski (3.v.l.): Mitglieder unserer Kulturgruppe, sowie Klaus Ritt, ehemals Projektleiter der Puzzle Picnic Family. (Foto: Corinna Weigelt)
Zu Gast bei Monik Mlynarski (3.v.l.): Mitglieder unserer Kulturgruppe, sowie Klaus Ritt, ehemals Projektleiter der Puzzle Picnic Family. (Foto: Corinna Weigelt)
Vorbereitung auf Pessach

In diesem Moment kam ein alter Herr in die Synagoge, der sich auf das Pessach-Fest vorbereiten wollte. Die Mitglieder können über die Gemeinde Lebensmittel für Pessach bestellen, und Herr Mlynarski gab ihm seine Sachen. Ich glaube, es waren Matzen und ein Glas mit eingelegtem Fisch. Der Mann blieb eine Weile sitzen und unterhielt sich mit uns. Als er fort war, erklärte mir Herr Mlynarski, was es mit den besonderen Speisen auf sich habe. „An Pessach isst man ungesäuertes Brot, weil die Israelis beim Auszug aus Ägypten Mehl mit Wasser gemischt und in die Sonne gelegt haben.“

Es war Mittagszeit; wir machten Schluss mit unserer Interview- und Schreibstunde.

Ein Geschenk zum Pessachfest

Herr Mlynarski lud gern Menschen in die Synagoge in der Karlstraße 34 ein. Er tat dies bei jeder sich bietenden Gelegenheit, insbesondere bei den Festen. Zunächst saß man bei einer Feierlichkeit mit im Gebetsraum, wohnte der Zeremonie bei, währenddessen auch der Jüdische Chor Lieder darbot. Anschließend ging es ins „Restaurant“, wo koschere Speisen gereicht wurden. Ich war oft dort und fühlte mich wohl. Nicht nur privat, sondern auch für die Presse, wenn es etwas zu berichten gab. Das Pessachfest 2015 war eine solche Gelegenheit, denn die Synagoge bekam ein besonderes Geschenk überreicht.

Schlüssel zur Synagoge gefunden

Es stammte von einer Dame, deren Bruder 2014 gestorben war und in dessen Haus sie einen hübsch verzierten Schlüssel zur Einweihung der Bad Nauheimer Synagoge im Jahr 1929 gefunden hatte. Das gute Stück lag in einem alten Holzkästchen auf dunkelblauem Samt; es stand „1929“ darauf. Wie die Dame schilderte, wurde der Schlüssel durch ihren Großvater gefertigt, der Schlossermeister gewesen war. Stets habe er ein Foto davon in der Brieftasche mit sich getragen, doch weshalb er den Schlüssel hatte, wusste die Finderin nicht.

Kunstfertig geformt liegt der Schlüssel auf blauem Samt. (Foto: Petra Ihm-Fahle)
Kunstfertig geformt liegt der Schlüssel auf blauem Samt. (Foto: Petra Ihm-Fahle)
Rätsel um den Schlüssel

Im Rahmen meines Artikels für die lokale Presse machte ich mir ebenfalls Gedanken darum, wieso jemand außerhalb der Jüdischen Gemeinde den Schlüssel gehabt haben könnte. Ich kam zu dem Schluss, dass es sich um ein Duplikat handeln könnte, vielleicht, um es als Beweis der handwerklichen Kunstfertigkeit zu präsentieren. Ein Indiz war das Foto einer Ausstellung; auf dem Ausstellungstisch der Schlosserei liegen drei Schlüssel, wovon einer dem Synagogenschlüssel ähnlich sieht.

Zug zur neuen Synagoge

In Schriftquellen, etwa der Zeitschrift „Der Israelit“ vom August 1929, wird das Stück in Zusammenhang mit dem Umzug von der alten Synagoge (Alicestraße 12) hin zum neuen Gotteshaus (Karlstraße 34) genannt. In weißem Kleid überreichte Grete Rosenthal, vermutlich Verwandte eines Vorstandsmitglieds, den Türöffner.

Alte Synagoge, Alicestr. 12 (Gemalt von Pitt Manderbach. Privatbesitz, mit freundlicher Genehmigung)
Alte Synagoge, Alicestr. 12 (Gemalt von Pitt Manderbach. Privatbesitz, mit freundlicher Genehmigung)
Unrühmlicher Kontext

Ein weiteres Schlüsselexemplar taucht in der Literatur auf, als Stephan Kolb „Die Geschichte der Bad Nauheimer Juden“ [1] schrieb, allerdings in unrühmlichem Kontext. 1982 interviewte Kolb den Zeitzeugen Siegfried Oppenheim, ehemals Lehrer an der jüdischen Bezirksschule. Wie Oppenheim schilderte, marschierte im Zuge der Reichspogromnacht SS in die Schule, verlangte den Synagogenschlüssel und wurde an den Vorsteher verwiesen. Dass der nun aufgefundene, verzierte Schlüssel 1938 bei diesem Ereignis wegkam, ist weder nachweis- noch widerlegbar. Eventuell wurde ein Schmuckschlüssel nicht zum Schließen benutzt.

… hin zur Neuen Synagoge, errichtet 1929. (Bild: Petra Ihm-Fahle)
… hin zur Neuen Synagoge, errichtet 1929. (Bild: Petra Ihm-Fahle)
Nach und nach wieder jüdisches Leben

Das Gotteshaus wurde damals verwüstet und in Brand gesetzt, die Flammen von Feuerwehrleuten aber gelöscht, worauf das Gebäude mehrere Jahre als Depot zweckentfremdet wurde. Noch vor der Kapitulation wurde im April 1945 ein Gottesdienst mit überwiegend amerikanischen Soldaten veranstaltet, und nach und nach in Bad Nauheim wieder jüdisches Leben aufgebaut, das auch heute noch über die Region hinweg ausstrahlt.

Keine Erleichterungen

Herr Mlynarski war ein Opfer des Holocaust. Seinen Leidensweg schildert er in dem Beitrag „Ich überlebte die Hölle“ im ersten Buch unserer Kulturgruppe, „Das Leben ist kein Sprudelhof“. 1923 wurde er in Modrzejów in Polen geboren und mit 16 Jahren in ein Zwangsarbeitslager verschleppt. Sechs Jahre lang kämpfte er in verschiedenen Lagern und KZs um sein Überleben.

Schlimmste Strapazen in den Lagern

Im Zusammenhang mit dem Thema Feste für dieses Buch habe ich mich gefragt, ob es in KZs und Zwangsarbeitslagern die Möglichkeit gab, Chanukka zu begehen. Herr Mlynarski und ich sprachen nie darüber. Wie er in den Zwangsarbeitslagern den Sabbat und den Sonntag verbringen musste, hat er erzählt: In Groß-Pogul war sonntags offenbar frei, denn er berichtete, dass an einem Sonntag das ganze Lager strafarbeiten musste. In Kittlitztreben durfte einmal im Monat sonntags im sogenannten englischen Lager geduscht werden. An anderer Stelle erzählte er: „Ich wusste nicht, ob heute Montag oder Mittwoch ist. Immerzu mussten wir arbeiten, am Sabbat den halben Tag. Sonntags mussten wir im Lager arbeiten, aufräumen oder Schnee schippen.“

Feiertage im KZ durchlitten

Zu den Themen Chanukka und Weihnachten habe ich diesbezüglich im Internet sehr wenig gefunden. Eine Quelle berichtet über den orthodoxen Rabbiner Josef Carlebach aus Hamburg, der im KZ Jungfernhof bei Riga versuchte, Chanukka-Feiern und auch Schulunterricht für Kinder zu organisieren. Er war im Dezember 1941 deportiert worden und wurde drei Monate später bei einer Massenerschießung ermordet [2]. Eine andere der sehr wenigen Quellen beschreibt eine einzelne Episode im KZ Moringen. Dort durften Jüdinnen 1936 offenbar Chanukka feiern und bekamen dafür zwei Tage frei. Sie zündeten den Chanukkaleuchter an, tauschten kleine Geschenke aus und sangen Lieder. In Männerlagern soll so etwas undenkbar gewesen sein [3].

Leere und Trostlosigkeit

Etwas mehr Informationen gibt es von nichtjüdischen Zeitzeugen dazu, wie Weihnachten im KZ erlebt wurde. Die Berichte der Häftlinge variieren, sie schildern das Erlebnis von Leere und Trostlosigkeit[4], das Erleben von schlimmster Gewalt[5], vereinzelt auch einen winzigen Lichtblick im ansonsten so furchtbaren Alltag[6].

Von guten Mächten

Das Gedicht „Von guten Mächten wunderbar geborgen“, das der Pfarrer Dietrich Bonhoeffer am 19. Dezember 1944 aus dem KZ Flossenbürg geschrieben hatte, sollte seinen Verwandten an Weihnachten Trost spenden und Mut machen[7].

Tanzen an Chanukka

Chanukka habe ich zweimal in der Jüdischen Gemeinde mitgefeiert, beide Male war ich für die Zeitung zugegen. Das letzte Mal 2015, kurz vor dem Tod von Herrn Mlynarski. Die Gemeinde lud in den Saal der Erika-Pitzer-Begegnungsstätte ein, zum ersten Mal in großem Rahmen. Die Stimmung war teilweise sehr ausgelassen, etwa, als die Klezmer Tunes Band aus Köln am Ende ihres schwungvollen Konzerts ein traditionelles jüdisches Lied spielte, wozu der Saal eine Polonaise tanzte. Herr Mlynarski war begeistert und fragte mich, ob ich den Tanz fotografiert habe. Doch ich hatte mitgetanzt und das Foto ganz vergessen.

Erinnerung an die Kindheit

An diesem Abend erzählte er mir noch einmal, wie er als Kind Chanukka zu Hause in Modrzejów erlebt hatte. Bürgermeister, Stadtverordnete, der katholische Pfarrer und die Gemeindemitglieder seien damals eingeladen worden. „Wir waren eine große Gemeinde, mit 500 Leuten. Man hat die Kerzen angezündet, gesungen. Der Bürgermeister hat gesprochen und der Rabbiner.“ Zu Hause habe es einen extra Leuchter, einen Imbiss und Geschenke gegeben. „Es war toll, aber nicht mit einem solchen Luxus wie heute.“

Ein jüdischer Weg ist die Geselligkeit: Sein letztes Chanukka mit der Gemeinde und Gästen feierte Monik Mlynarski in großem Rahmen. (Bild: Petra Ihm-Fahle)
Ein jüdischer Weg ist die Geselligkeit: Sein letztes Chanukka mit der Gemeinde und Gästen feierte Monik Mlynarski in großem Rahmen. (Bild: Petra Ihm-Fahle)
Begeistert von Chanukka-Fest

Von dem Chanukka-Fest  in  der  Pitzer-Stätte  war er so angetan, dass er kurz überlegte, im nächsten Jahr ebenso groß zu feiern. Er verwarf den Gedanken wieder, weil Chanukka 2016 auf Silvester fiel und die Organisation zu kompliziert gewesen wäre.

Manfred de Vries (links) und Benni Pollak zünden den Chanukka-Leuchter an. (Bild: Petra Ihm-Fahle)
Manfred de Vries (links) und Benni Pollak zünden den Chanukka-Leuchter an. (Bild: Petra Ihm-Fahle)
Ein Vorbild

Am Freitag, 5. Februar 2016 rief mich seine Sekretärin Annette Mazur an, sie weinte. „Es ist etwas ganz Schlimmes passiert“, sagte sie. Herr Mlynarski war tags zuvor auf dem Weg zur Bushaltestelle zusammengebrochen und im Krankenhaus gestorben. Er wurde 92 Jahre alt.

Liebe zu anderen Menschen

Zu seiner Beerdigung am Dienstag, 9. Februar 2016 kamen zahlreiche Menschen. Mehrere Redner gedachten seiner, darunter Daniel Neumann vom Jüdischen Landesverband. Das tat er auch, als im Mai Vorstandswahlen waren und Manfred de Vries zum Nachfolger von Herrn Mlynarski gewählt wurde. Er sagte: „Meine Oma hatte einen guten Kontakt zu ihm. Einmal pro Woche rief er sie an und gab ihr stets das Gefühl, dass sie wichtig für ihn sei.“ Dieses Empfinden habe Herr Mlynarski vielen Personen vermittelt. Er habe Liebe und Zärtlichkeit für andere Menschen übriggehabt. „Er hat so viel Leid in seinem Leben erfahren müssen, und doch war das Besondere, dass er daraus nicht verbittert hervorgegangen ist, sich zurückzog und das Leben in seinen eigenen vier Wänden verbrachte und haderte.“

Ein Jahr nach dem Tod von Herrn Mlynarski gedenken seine Freunde seiner am Grab. (Bild: Corinna Weigelt)
Ein Jahr nach dem Tod von Herrn Mlynarski gedenken seine Freunde seiner am Grab. (Bild: Corinna Weigelt)
Jüdischkeit in die Herzen bringen

Herr Mlynarski habe stattdessen einen anderen Weg gefunden, der ein sehr jüdischer Weg sei: Nicht die Einsamkeit zu suchen, sondern mitten ins Leben zurückzukehren. Dieses Prinzip stamme schon aus der Thora: Sich von der Welt zurückzuziehen und nur auf sich selbst zu achten, sei eine Sünde. „Monik Mlynarski war jeden Tag in der Synagoge, um den Menschen zu helfen, für sie zu arbeiten und ein klein bisschen Jüdischkeit in ihre Herzen zu bringen“, sagte Neumann. Irgendwann allerdings komme der Tag, an dem auch solche besonderen Menschen ihren letzten Atemzug tun. Was uns aber bleibe, sei die Erinnerung an eine wunderbare Persönlichkeit, so Neumann, die ihr Leben mit großer Energie lebte und ein Vorbild sei.

Ein jüdischer Weg: Monik Mlynarski in jungen Jahren inmitten von Freunden. (Foto: privat)
Ein jüdischer Weg: Monik Mlynarski in jungen Jahren inmitten von Freunden. (Foto: privat)
Literatur

[1] Stephan Kolb: Die Geschichte der Bad Nauheimer Juden. Eine gescheiterte Assimilation. Verlegt durch den Magistrat der Stadt Bad Nauheim, 1987.

[2] Hilde Michael: Das Leben der Hamburger und Altonaer Juden unterm Hakenkreuz

[3] Nikolas Wachsmann: Die Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager

[4] Edgar Kupfer-Koberwitz, Die Mächtigen und die Hilflosen. Als Häftling in Dachau. Band 1, 2. Auflage 1957, S. 232 ff.

[5] http://www.gelsenzentrum.de/weihnachten_nationalsozialismus.htm Guido Kopp, Ich aber habe leben müssen. Die Passion eines Menschen des 20. Jahrhunderts, Ried Verlag, Salzburg 1946, S. 230-239

[6] WAZ Online-Ausgabe 23.12.2013: Hernerin verbrachte Weihnachten 1943 als Häftling im Konzentrationslager

[7] http://www.gelsenzentrum.de/weihnachten_nationalsozialismus.htm

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