Ein verletzliches Gebilde
Interview mit Lothar Jung
Herr Jung, in der Einladung zur Veranstaltung schreiben Sie, dass die Stabilität unseres politischen Systems seit der Gründung der Bundesrepublik noch nie so massiv bedroht war wie heute. Gab es nicht schon bedrohliche Phasen, wie beispielsweise das Erstarken der RAF und den Deutschen Herbst 1977?
Lothar Jung: Der RAF-Terrorismus der 1970er Jahre war gewalttätig, hatte aber kaum Unterstützung in Bevölkerung, Presse und Politik. Zusammen mit den Sicherungsmaßnahmen der Verfassung von 1949 war die Bedrohung des demokratischen Systems überschaubar. Heute dagegen fordern viel breitere Schichten den Rechtsstaat heraus. Außerdem wirken mehrere Krisen gleichzeitig von innen und außen destabilisierend. Der Vortrag wird solche Gefährdungen konkret, aktuell und systematisch beleuchten.
Wo können wir aktuell Aufweichungen des Rechtsstaats beobachten?
Im Osten und globalen Süden, aber auch im Westen gibt es Länder, die sich schleichend, aber planvoll von der liberalen, rechtsstaatlichen Demokratie verabschieden. Ungarn etwa oder auch Polen. Vielerorts ist die Gesellschaft tief gespalten. Besonders gefährdet ist das System in den USA, die ja oft Entwicklungen in Europa vorwegnehmen.
Die Rolle der sozialen Netzwerke
In den USA erleben wir das Verhalten der beiden politischen Lager, Demokraten und Republikaner, in einer neuen Härte. Welche weitere Zuspitzung ist hier möglich?
Die Gefahr für Demokratie und Gewaltenteilung geht hier vor allem von dem einflussreichsten und größten Teil der republikanischen Partei aus, dem Trump-Flügel. Dessen Motiv der Machterhaltung wird so vehement verfolgt, dass einige Beobachter sogar einen Bürgerkrieg für möglich halten. Ein Kulturkrieg tobt ohnehin schon.
Welche Rolle spielen die sozialen Netzwerke wie Facebook, X (ehemals Twitter) und Co. dabei?
Im Vergleich zu Presse, Hörfunk und Fernsehen wirken die sozialen Medien enorm beschleunigend, verstärkend und zugleich vereinfachend. Diese Kommunikation spielt Unklarheiten und Schwächen im politischen und gesellschaftlichen Diskurs aus und speist sich dabei vorwiegend aus dem Dagegen-Sein.
Wo können Akteure wie Politik, Gesellschaft, Nicht-Regierungsorganisationen oder auch Stiftungen wie die Ihrige ansetzen, um die Demokratie wieder zu stärken?
Ganz allgemein beantwortet gilt für alle diese Bereiche und Organisationen dasselbe, nämlich die Strukturierung von Dialog und Engagement auf eine bestimmte Art: Gute Gründe und vernünftige Argumente – auch unangenehme – sollten nicht nur zugelassen, sondern aktiv gesucht werden. Für Hetze, Lügen, Sprachverwirrung und Manipulationen jeder Art hingegen gibt es keinen Platz in einer freiheitlich-demokratischen, gleichermaßen zivilisierten, empathischen wie auch rational begründeten Gesellschaft. Denn nachweislich sind Bewusstmachung und Bildung überhaupt das wirksamste Mittel gegen Populismus, Polarisierung und Gleichgültigkeit.
„Demokratie – Ein höchst verletzliches Gebilde: Gefährdungen und Herausforderungen“, Mittwoch, 1. November 2023, 18 Uhr, Museum, Färbgasse 16, Butzbach.