Wo ist der dritte Socken?
von Ursula Wöll
Am 13. September ist Welt-Alzheimertag. Er soll zu einem besseren Verstehen der Kranken selbst und ihrer überforderten Angehörigen oder Freunde beitragen. Vor allem soll er anmahnen, dass viel mehr Pflegepersonal nötig ist, heute und vor allem zukünftig. Aktuell leben allein in Frankfurt 13000 Alzheimerkranke, in ganz Deutschland etwa 1,6 Millionen. Ihre Zahl wird zunehmen, denn wir werden statistisch immer älter. Und es erwischt fast nur Alte, ob sie nun Professoren oder Handarbeiter waren. Im Haus am Dom in Frankfurt ist am 13. September 2017 von 15 bis 18.30 Uhr eine Veranstaltung. Es gibt kurze Vorträge mit Diskussion und einen halbstündigen Film. Anwesend werden sein das Frankfurter Netzwerk Ethik in der Altenpflege, die Alzheimer-Gesellschaft Frankfurt und der Verein Pflege in Bewegung eV.
Umgekehrte Rollen
Eine Reihe Schriftsteller haben über die Demenz ihres Vaters oder ihrer Mutter geschrieben, vielleicht weil die Krankheit so unbegreiflich ist. Allen fiel es schwer, den Rollentausch zu akzeptieren: Das Kind muss nun Zeit und Zuwendung geben und den Liebesentzug verkraften, ja wird oft gar nicht mehr erkannt. Frustrierend auch die Enttäuschung, dass die Person, die einst Orientierung gab, nun nicht mehr Autorität, sondern schwach und hilflos in Windeln ist..David Sieveking beschreibt in „Vergiss mein nicht“ das Abgleiten seiner Mutter Gretel in die Erinnerungslosigkeit, geschehen in einer Bad Homburger Villa und sogar vom Sohn dokumentarverfilmt. Auch Tilman Jens bringt recht intim das Drama seines berühmten Vaters Walter zu Papier, das sich in einer Tübinger Villa abspielte. Am sensibelsten nähert sich der österreichische Schriftsteller Arno Geiger der Krankheit seines Vaters August in seinem Buch „Der alte König in seinem Exil“. Auch Arno Geiger erzählt in der Ich-Form, wie sich die Beziehung zu seinem Vater entwickelte, Schauplatz ist der ländliche Bregenzerwald: „Ich reiche ihm seine Socken. Er betrachtet sie ein Weilchen mit hochgezogenen Augenbrauen und sagt dann: ‚Wo ist der dritte?‘ Ich helfe ihm beim Anziehen, damit das Prozedere nicht ewig dauert.“
Das Anfangsstadium der Krankheit scheint für beide Seiten die schwierigste Zeit. Der oder die Betroffene nimmt noch viele der Fehlleistungen wahr und auch den fortschreitenden Verfall der Konzentrationsfähigkeit. Scham ist die Folge und Angst: „Wenn es dunkel wird, kommt die Angst. Da irrt der Vater rat- und rastlos umher wie ein alter König in seinem Exil.“ Der quälende Eindruck, nicht zu Hause zu sein, gehört zum Krankheitsbild. Der Sohn erklärt sich das so, dass ein dementer Mensch „aufgrund seiner inneren Zerrüttung das Gefühl der Geborgenheit verloren hat und sich an einen Platz sehnt, wo er sie wieder erfährt.“ Die ‚Gesunden‘, also Familie und FreundInnenkreis, rätseln lange Zeit, wollen die Diagnose Demenz zuerst nicht erwägen und sind sogar wütend auf die Bockigkeit, die sie falsch deuten. Sie machen einen schmerzhaften Lernprozess durch. Geiger, der zuerst den Vater ständig korrigierte, sah, dass dies zu nichts führte und ging in seinen Antworten auf das Gehörte ein. Nun ließ ihn der tägliche Umgang mit dem Vater „nicht mehr nur erschöpft zurück, sondern immer öfter in einem Zustand der Inspiriertheit….Ich stellte eine Änderung meiner Gefühle dem Vater gegenüber fest. Seine Persönlichkeit erschien mir wiederhergestellt, es war, als sei er der Alte, nur ein wenig gewandelt. Und auch ich selber veränderte mich. Die Krankheit machte etwas mit uns allen.“
Sinnbild für unsere Gesellschaft?
Die Rätselhaftigkeit und Unbeeinflussbarkeit des Verlaufs verführen immer wieder zu Versuchen, alles verstehen zu wollen. Dabei kommt Arno Geiger auch auf die Idee, die Alzheimerkrankheit im größeren Rahmen unserer Gesellschaft zu interpretieren. „Gleichzeitig ist Alzheimer ein Sinnbild für den Zustand unserer Gesellschaft: Der Überblick ist verlorengegangen, das verfügbare Wissen nicht mehr überschaubar, pausenlose Neuerungen erzeugen Orientierungsprobleme und Zukunftsängste. Von Alzheimer reden heißt, von der Krankheit des Jahrhunderts reden.“
Alois Alzheimer, der die Ursachen der Demenz entdeckte, ist 1864 geboren und verstarb früh im Jahr 1915. Die wesentlichen Erkenntnisse gewann er in Frankfurt, wo er Assistenzarzt an der Städtischen Anstalt für Irre und Epileptiker war.Sie war vom Psychiater Heinrich Hoffmann gegründet, der uns allen als Verfasser des ‚Struwwelpeter‘ bekannt ist. Alzheimer unterstützte eine freiere Anstaltsordnung, die ohne Zwangsjacken auskam. Er entdeckte die durch Eiweißablagerungen erzeugten Veränderungen im Gehirn, die Ursache des dementen Verhaltens sind. Alzheimer liegt auf dem Frankfurter Hauptfriedhof begraben, neben seiner vorher verstorbenen Frau.
13. September2017, 15 – 18.30 Uhr Veranstaltung im Haus am Dom Frankfurt, Domplatz 3, Eintritt frei