Musik und Literatur
von Jörg-Peter Schmidt
Sie haben in verschiedenen Zeitaltern gelebt, aber als Kämpfer gegen soziale Ungerechtigkeit waren sich Iwan Turgenjew (Bild), der jetzt 200 Jahre alt wäre, und Alexander Solschenizyn, vor 100 Jahren geboren, sehr ähnlich. Diese Gemeinsamkeiten verdeutlichte in der Phantastischen Bibliothek beim deutsch-russischen Abend vor rund 50 Zuhörerinnen und Zuhörern der Slawist Dr. Gerd Zimmermann (Göttingen). Für die musikalische Umrahmung sorgte das Vokalensemble „Harmonie“ St. Petersburg, das nicht nur die Klassiker „Eintönig klingt das Glöcklein“ und „Abendglocken“, sondern auch einige erst kürzlich einstudierte Kompositionen mitgebracht hatte, wie die Leiterin der Bibliothek, Bettina Twrsnick, ankündigte.
Verbannte Regimekritiker
Moderator Zimmermann und der von Alexander Andrianov geleitete Chor erwiesen sich als eingespieltes Team, denn auf die jeweilige Literaturstelle passten dann die von Pjotr Samojlin (Bass) Ewgenij Wischnewskij (Bariton), Wiktor Smirnow (2. Tenor), Wjatscheslaw Ignatowitsch (1. Tenor), Sergej Granquist (1. Tenor) und Alexander Andrianov (Bass) gesungenen Werke vorzüglich. Zunächst stand aber die Literatur im Mittelpunkt: „Iwan Turgenjew und Alexander Solschenizyn, die wegen ihrer Kritik am jeweiligen Regime zeitweise verbannt wurden, haben sich in ihren Gedichten und Erzählungen mit den Sorgen der einfachen Menschen aus dem Volk beschäftigt“, zeigte Dr. Zimmermann unter anderem am Beispiel des Gedichts “Der Bettler“ auf. Es stammt von Iwan Turgenjew, der in seinem Buch „Aufzeichnungen eines Jägers“ die Leibeigenschaft anprangerte. Der Autor selbst ließ Leibeigene frei.
Von Sperlingen, Enten und Schwalben
Zwei von Gerd Zimmermann auf Russisch und Deutsch vorgelesene Kurzerzählungen über das Wundervolle in der Natur bewegten die deutschen und russischen Zuhörer besonders. Iwan Turgenjew fasst in „Der Sperling“ eine Beobachtung zusammen: Während eines Spaziergangs mit seinem Hund erblickt er einen winzigen aus dem Nest gefallenen jungen Vogel, vor dem sich sofort sein Hund aufbaut. Und dann geschieht etwas Unerwartetes: Wie ein Stein fliegt von oben der alte schwarzbrünstige Sperling zu Boden und wirft sich schützend über sein Junges. Turgenjew: „Mein Hund hielt inne, wich zurück…“ Und Alexander Solschenizyn ist in einer seiner Kurzgeschichten davon fasziniert, wie zart und zerbrechlich, aber doch bewundernswert so ein kleines Entenküken ist. Der Nobelpreisträger – Autor unter anderem von „Der Archipel Gulag“ – mahnt: „Wir werden zur Venus fliegen… Aber mit unserer ganzen Atommacht werden wir niemals, n i e m a l s imstande sein – selbst wenn man uns Federn und Knochen geben würde – dieses kleine, gewichtlose hilflose Entlein in einer Retorte zusammenzufügen.“
Zu diesen Texten passte die vom Chor erst kürzlich einstudierte ukrainische Volksweise „Die kleine Schwalbe“ vorzüglich. Nicht nur bei dieser Komposition bewies das Ensemble, dass jeder der Sänger auch begnadeter Solist ist: Das war bei dem ebenfalls neu ins Repertoire aufgenommenem „Lied der Heimatliebe“ nicht anders ebenso wie bei „Ich bete an die Macht der Liebe“ (auf Russisch und Deutsch), dem Volkslied „Kutscher, jage die Pferde nicht so“, dem „Kosakenlied“, dem „Lied der Wolgaschlepper“, „Im grünen Walde“, „In den wilden Steppen des Baikal“ und (als eine der Zugaben) „Guten Abend, gute Nacht“. Aber Schluss war noch nach dem langen, starken Applaus noch nicht: Man tauschte sich in gemütlicher Runde voller Respekt über deutsche und russische Schriftsteller und Musiker aus.