Winterling

Roman über ein Bauernleben

Von Elfriede Maresch

„Reichen die Vorräte? Überleben wir diesen Winter?“ Um diese Fragen kreisen die Gedanken der Dauernheimer, wenn das Laub fällt. Dabei geht es um kein düsteres Zukunftsszenario, das den Zusammenbruch der Überflussgesellschaft schildert. Nein: Vergangenheit wird fundiert beschrieben. „Winterling. Ein Bauernleben in finsterer Zeit“ hat der Autor Dr. André Hülsbömer seinen Roman aus Oberhessen im Jahr 1670 genannt.

Renovierungsbedürftiger Bauernhof

Hülsbömer ist 1966 im westfälischen Münster geboren, aber seit 1998 Wahl-Dauernheimer. Er studierte Volkswirtschaft und Geschichte in Frankfurt und Dublin, arbeitete zuerst als Konjunkturanalyst der F.A.Z.-Informationsdienste und wurde mit Ende seines berufsbegleitenden Promotionsstudiums Chefredakteur des F.A.Z-Instituts. Als Selbstständiger legte er den Grundstein für den späteren Fachverlag F.A.Z Business Media. Der Vater mehrerer Töchter pendelte lange Zeit zum Frankfurter Arbeitsplatz. 2017 entschloss er sich zu einer rigorosen Lebenswende, beendete seine Tätigkeit für die F.A.Z.-Gruppe und kaufte mit seiner Frau Melanie in Dauernheim den Auenlandhof. Die anfangs ärmliche bäuerliche Hofreite bestand schon vor dem Dreißigjährigen Krieg. Sie wurde im Lauf der Jahrhunderte zu einem Vierseitenhof ausgebaut.

Auf seinem Auenlandhof hat André Hülsbömer auch details handerwerklich aufbereitet, wie diese Türglocke ….

Neben der Landwirtschaft entstand auf dem Hof eine Färberei, die dem Anwesen den alten Hausnamen „Färwersch“ eintrug. Zum Zeitpunkt des Kaufs war das Anwesen stark renovierungsbedürftig. Das Ehepaar sanierte, gab dem Hof neue Funktionen als Biergarten, Hofcafé und Seminarhof samt Eventgastronomie und Beherbergungsbetrieb mit heute 21 Betten. Die Bewirtschaftung eines kleinen Weinbergs, einer Destille und eines Jagdreviers gehört dazu. „Ohne die alltäglichen Lebenserfahrungen hier im Ort, ohne die Arbeit auf unserem Hof hätte ich dieses Buch nicht schreiben können“ sagt der Autor heute.

Frühes Interesse an historischen Romanen

Hülsbömer hat sich schon früh für historische Romane interessiert. Er nennt Franz Werfels „40 Tage des Musa Dagh“, aber auch Zolas „Fécondité“, die ihn als Leser tief ergriffen haben. Im Zuge seiner Arbeit am „Winterling“ hat er sich ein Recherche-Netzwerk aufgebaut. Hülsbömer spricht von „unserer wunderbaren Museumslandschaft“, in der er unterwegs war, von Kirchen- und Kommunalarchiven, von den Gesprächen mit Historikern und Spurensuchern in vielen Facetten der Heimatgeschichte, aber auch über Hessen hinweg: „Das Winterling-Material füllt inzwischen einen ganzen Schrank! Praktisch jeder Ort weist einen älteren Mann auf, der in seinem Lebensabend die Chance zur Vertiefung in die Ortsgeschichte nutzt. Einige solcher Gesprächspartner habe ich regelrecht ausgesaugt. “ Sein Roman entstand in einem arbeitsintensiven, auch mühevollen Schreibprozess, aber Hülsbömer betont im Nachwort die Lust an Recherchefunden und Schreibfreuden. Die Zeichnung im Buch sind John Stephen Porter zu danken.

und diese Tür. (Fotos: Elfriede Maresch)

Johann Henrich Edler, Bauer, Färber, Familienvater, die zentrale Figur des Romans, ist eine historische Gestalt, im Dauernheimer Kirchenarchiv nachgewiesen als erster Bewohner des Auenlandhofes, der freilich damals noch nicht so genannt wurde. Wohl aber heißt die vorbeiführende Straße Weidgasse nach der wichtigen einheimischen Färberpflanze Weid. Knappe lakonische Sätze fügen sich zum Bild der Dauernheimer Lebensverhältnisse 1670 zusammen: „Edler besaß einen der wenigen Brunnen, deren Wasser nicht krank machte“. Er hat einen misshandelten Jungen ins Haus genommen, der hier als Familienmitglied langsam Mut fasst. Detailliert wird der Kleine angewiesen, wie mit rigoroser Sauberkeit die Wasserqualität gehalten werden muss. Letzte Herbstarbeiten und der Speisezettel bäuerlicher Familien, Torf stechen und Entwässerung des schlammigen Innenhofs, Tuch färben und Hilfsdienste bei einer Prunkjagd des Adels – so sachkundig wie anschaulich fügt Hülsbömer Mosaiksteine des Lebensalltags zusammen.

Mosaiksteine des Lebensalltags

War der Zeitabschnitt 1648 bis 1670 eine Aufbau-Epoche, ein kleines „Wirtschaftswunder“ nach dem Dreißigjährigen Krieg? „Nein, Friede, Sicherheit, Recht, Gesetz und schon gar Gerechtigkeit hatten sich noch nicht eingestellt, obwohl der Krieg über 20 Jahre zurücklag“ schreibt der Autor im Nachwort. Eine streng hierarchisch gegliederte Gesellschaft bildet sich ab. Für die Bauern und Handwerker unten in der Pyramide gibt es keine Rechtssicherheit, von Außenseitergruppen wie den Juden ganz zu schweigen. Dieffenbach, der Schultheiß von Dauernheim, ist im Ort allmächtig – und korrupt. Als er nach dem Misserntejahr 1670 mit angeblich gestiegenen Abgabeforderungen an den Landgrafen von Hessen-Bingenheim in die Häuser kommt, hat niemand das Recht, das nachzuprüfen. Für das Dorf sind die neuen Abgaben buchstäblich mörderisch, Familien werden schlichtweg verhungern. So kommt zum täglichen Überlebenskampf noch ein zweites Spannungsmoment des Romans: Wer setzt der Ausbeutung Grenzen – und wie?

Der Landgraf von Hessen-Darmstadt, auch sein Bingenheimer Schwiegersohn und ein Großteil einflussreichen Adels lebten in einer Parallelwelt. Oberster Lebenszweck war die Repräsentation, ohne Rücksicht auf die Wirtschaftskraft ihres Herrschaftsgebiets. In einer Szene werden die „Nervenanfälle“ der Landgräfin von Hessen-Darmstadt geschildert: der grüne Brokat eines Prunkbetts, Geburtstagsgeschenk für ihren Mann, hat einen Graustich! Ist Hülsbömer da die Autorenfantasie durchgegangen? Nein, er hat eine Habilitationsschrift zu den Tagebüchern der hohen Dame ausgewertet, basierend auf Material des Staatsarchivs Darmstadt, und hat daraus die Handlung abgeleitet. „Volkswirtschaftliches“ Denken, etwa Investitionen in bessere Produkte, Verkehrswege, Absatzmärkte, sind außerhalb der Vorstellung der Herrschenden. Die Landgrafschaft Hessen-Darmstadt ist genauso hoffnungslos verschuldet wie die Bingenheimer Filiale – da scheint nur der Druck nach unten zu bleiben…

Gesellschaftspanorama des 17. Jahrhunderts

So entsteht in Hülsbömers Roman ein Gesellschafts-Panorama des ausgehenden 17. Jahrhunderts. Selbst ein Geschichtsphilosoph der Frühaufklärung taucht auf, Referent in der „Fruchtbringenden Gesellschaft“, der beide Landgrafen angehören. Schonungslos stellt dieser Christoph Cellarius das Repressive der absolutistischen Herrschaftsform dar. Ein Rückblick auf Münster 1648 zeigt, wie ein integrer Mann, der päpstliche Nuntius Bischof Fabio Chigi, geradezu Revolutionäres erreicht. Er manövriert den Alleinseligmachungsanspruch der katholischen Kirche aus, die Gesandtschaften der Länder unterzeichnen den Friedensvertrag. Nur der Papst verbietet Chigi, dem Vermittler, die Unterzeichnung des Vertrages, des „Dokuments der Schande“ und schickt später ein protestierendes Breve. Gleichviel: das Gemetzel kann endlich aufhören. 

Zwanzig Jahre später: Ein Glanzpunkt in Hülsbömers Roman ist die Schilderung einer Prunkjagd des Bingenheimer Landgrafen. Die Herrschaften tafeln mit Stil. Für die Bauern, die als Treiber zwei Tage helfen müssen, gibt es – nichts. Ein Großteil der Jagdbeute verrottet. Wenn die Bauern noch Brauchbares mitnehmen, begehen sie eine Straftat.

Hülsbömers Hauptfiguren – Edler, seine junge Frau Anna, der neue Dauernheimer Pfarrer Soldan, der Bingenheimische Landvogt Aledter – sind keine Rebellen, die Kopf und Kragen riskieren, keine Widerstandskämpfer oder Märtyrer. Sie erinnern an die Antihelden Bertolt Brechts, wissen, dass „man länger leben muss als die Gewalt“, versuchen aber, in ihrer kleinen Welt zu retten, was zu retten ist. Der Pfarrer gesteht Edler, dass er bei einem Hexen-„Prozess“ dabei sein musste und schildert die Misshandlungen der längst vorverurteilten Frau. Soldan schämt sich, dass er sie nicht retten konnte. Aber der Henker und seine Gehilfen sind längst zu betrunken, um zu verstehen, was der Pfarrer tut. Er verändert die Namen anderer, die die Frau auf der Folter beschuldigt hat – ein Flächenbrand wird verhindert.

Die Spannung hält bis zum Ende des Romans. Werden die Bauen sich erheben? Wird Vogt Aledter, ein skurriler, aber gerechter Mann, der Korruption in Dauernheim ein Ende setzen? Wird der Landgraf die Abgaben senken?

Auf die Frage, ob „Winterling“ eine Sympathieerklärung an Dauernheim, an den Auenlandhof sei, antwortet Hülsbömer kurz und bündig: „Ja!“

„Winterling. Ein Bauernleben in finsterer Zeit“ hat 473 Seiten, ist als Hardcover ausgestattet und hat die ISBN-Nummer 978-3-8392-0833-5. Die ersten beiden Lesungen zu „Winterling“ auf dem Auenlandhof sind ausverkauft, eine dritte wird am 30. Mai stattfinden. Kartenbestellung ist möglich unter info@auenlandhof.net, Informationen zu Lesungen in Buchhandlungen der Region werden demnächst dort veröffentlicht.

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