Volker Ullrich

Schicksalsstunden einer Demokratie

Von Michael Schlag

Hitlers Triumph war keineswegs ein „Betriebsunfall“ der deutschen Geschichte, stellt Volker Ullrich in seinem Buch „Schicksalsstunden einer Demokratie – Das aufhaltsame Scheitern der Weimarer Republik“ fest. „Das Buch öffnet einem wirklich die Augen – auch mit Blick auf die politische Entwicklung heute“, meint Landbote-Autor Michael Schlag.

Nazi-Dikatur nicht zwangsläufig

So hätte ich es noch vor Kurzem gesehen: Das Erstarken rechtsautoritärer Parteien ist doch kaum mit der Weimarer Republik zu vergleichen. Die demokratischen Institutionen sind heute gefestigt, die Justiz unabhängig, die Medien frei und auch die wirtschaftliche Lage ist kaum zu vergleichen. In den 14 Jahren der Weimarer Republik dagegen war die Demokratie von Beginn an schwach, eigentlich lief es von Beginn an auf das Ende und die Diktatur hinaus. Volker Ullrich beschreibt die Zeit ganz anders in seinem Buch „Schicksalsstunden einer Demokratie – Das aufhaltsame Scheitern der Weimarer Republik.“ Das Buch öffnet einem wirklich die Augen – auch mit Blick auf die politische Entwicklung heute.

Der Historiker geht minutiös den Ursachen für 1933 nach und schreibt: Die Nazi-Diktatur am Ende war kein zwangsläufiges Ergebnis, sondern es gab immer wieder Handlungsspielräume. Gewiss gab es Ursachen, die heute nicht mehr gelten: vordemokratische Eliten in Schwerindustrie, ostelbischem Grundbesitz, in Armee, Bürokratie und Justiz. Es gab die harten Bedingungen des Versailler Vertrages. Dennoch hätte die erste deutschen Demokratie eine Chance gehabt, sagt Ullrich, und „der Ausgang war offener, als es eine auf den Untergang fixierte Perspektive nahelegen möchte.“

Die Wahl des Monarchisten Paul von Hindenburg zum Reichspräsidenten im April 1925 hätte verhindert werden können, auch der Bruch der Großen Koalition 1930 hätte sich mit größerer Kompromissbereitschaft der Parteien vermeiden lassen. Und gerade aus heutiger Sicht frappierend: „Niemand zwang die bürgerlichen Parteien in Thüringen 1930, die Nationalsozialisten in die Landesregierung aufzunehmen.“ Ohne Not entließ Hindenburg Ende Mai 1932 den Reichkanzler Heinrich Brüning und gab den Weg frei für den Staatsstreich in Preußen, selbst „noch im Januar 1933 war der Triumph Hitlers nicht unvermeidlich.“ Immer wieder kam es – und kommt es heute – entscheidend darauf an, wie sich einzelne Menschen in konkreten Situationen verhalten, das ist das Thema des hervorragenden Buches.

Wahl mit katastrophalen Folgen

Warum gab die Weimarer Verfassung dem Reichspräsidenten eine so mächtige Position? Auf sieben Jahre gewählt, ernennt und entlässt der Präsident die Reichsregierung, er kann den Reichstag auflösen und er kann nach § 48 das Parlament zeitweise ganz ausschalten. Friedrich Ebert (SPD) war der erste Reichspräsident und die bürgerlichen Parteien wollten damit einen Gegenpol zu einer möglichen sozialistischen Mehrheit im Parlament schaffen. Schon damals gab es aber Warnungen, falls ein Mann aus einer anderen, staatsstreich-lüsternen Partei an seine Stelle treten würde.

Das Buch geht ab 1919 Jahr für Jahr durch, den Kapp-Lüttwitz-Putsch und die Reichstagswahl von 1920, den versuchten Hitler-Putsch 1923. 28. Februar 1925, der Tod von Reichpräsident Friedrich Ebert, SPD. Von den sieben Kandidaten für die Nachfolge erreichte keiner die im ersten Wahlgang geforderte absolute Mehrheit. Allerdings erhielten die Kandidaten der Weimarer Koalition (SPD, Zentrum und DDP) zusammen 49,3 Prozent, eigentlich eine solide Grundlage für einen gemeinsamen Kandidaten im zweiten Wahlgang, wo die einfache Mehrheit reicht. Die republikanischen Kräfte einigen sich auf den Zentrumspolitiker Wilhelm Marx als Sammelkandidat des „Volksblocks“. Allerdings können Parteien für den zweiten Wahlgang auch neue Kandidaten aufstellen, die im ersten Wahlgang gar nicht angetreten waren. Erich Ludendorff hatte als Kandidat der NSDAP nur 1 Prozent der Stimmen erhalten. Jetzt stellen die Parteien des „Reichsblocks“ den 77-jährigen Paul von Hindenburg auf, „die Verkörperung des preußischen Militarismus“. Die KPD-Führung beschloss, sich nicht dem Volksblock anzuschließen, sondern hielt fest an der Kandidatur Ernst Thälmanns. So gewinnt am 26. April 1925 Hindenburg mit 48 Prozent, gegen Marx mit 45 Prozent, auf Thälmann entfielen 6 Prozent. Rechnerisch hätten die Stimmen für Thälmann ausgereicht, um den Kandidaten der Rechtsparteien zu verhindern. Die Chance war vertan die politische Rechte von einer Machtposition fernzuhalten, mit später katastrophalen Folgen.

Indes stabilisierte sich das Land in den folgenden Jahren wirtschaftlich und politisch. Bei den Reichstagswahlen 1928 waren die Sozialdemokraten klare Gewinner, die NSDAP kam auf gerade einmal 2,8 Prozent. Der Rückschlag kam mit der Wirtschaftskrise 1929, am Streit um die Finanzierung der Arbeitslosenversicherung und der Deckung des Haushaltsdefizits zerbrach die Weimarer Koalition am 27. März 1930. Es bleibt Spekulation, aber hätte man durch massive Erhöhung der Staatsverschuldung und Konjunkturprogramme die Verelendung im Land aufhalten können? Jetzt erst bekam die NSDAP Aufwind, erhöhte ihren Stimmenanteil bei den Wahlen 1930 auf 18 Prozent, und wurde mit 107 Sitzen zweitstärkste Partei nach der SPD. Immer wieder lesen sich Passagen des Buchs, als sei von heute die Rede. Ein großer Teil der Stimmen für die NSDAP kam von Erstwählern und bisherigen Nichtwählern, bei insgesamt hoher Wahlbeteiligung von 82 Prozent. Ullrich schreibt: „Dass sie bereits über ein gefestigtes nationalsozialistisches Weltbild verfügten, darf bezweifelt werden. Vielmehr brachten sie mit ihrer Stimmabgabe für die Hitler-Partei ihren Protest gegen die bestehenden Verhältnisse zum Ausdruck.“

Enormes Intrigenspiel

Ein weiteres Versagen der demokratischen Parteien zeigte sich nach der Landtagswahl und Kabinettsbildung in Thüringen 1929. Obschon eine bürgerliche Mehrheit bestand, ging die DVP anstelle der SPD in eine Koalition mit der NSDAP. Wilhelm Frick, Teilnehmer am Hitlerputsch von 1923, wurde der erste nationalsozialistische Minister in einer Landesregierung. Was sich hier und noch öfter zeigte: Die Nazis hatten es vor allem auf das Innenministerium abgesehen, jetzt in Thüringen, später in Preußen und dann auch im Reich. In Thüringen kam noch die Position als Volksbildungsminister dazu, das heißt: alle Beamten, die Polizei, Schulen, Universitäten, Theater, unterstanden jetzt dem NSDAP-Ministerium. Und sofort begann, was Volker Ullrich eine „braune Kulturrevolution“ nennt: Republiktreue Beamte im Land wurden entlassen und durch Gefolgsleute der NSDAP ersetzt, auch die Polizeidirektionen von Weimar und Gera. Neue Schulgebete wurden verpflichtend, eines davon endete mit „Deutschland erwache“ – dem Schlachtruf der Nationalsozialisten. Das Buch „Im Westen nichts Neues“ wurde an den Schulen verboten, die Schulräte mussten berichten, welche Schulen und welche Lehrer es im Unterricht benutzt hatten. Missliebige Aufführungen verschwanden vom Spielplan der staatlichen Theater, dem Bauhaus in Weimar die Mittel gekürzt. Es wurde wahr, was Goebbels schon angekündigt hatte: „Da werden wir die Probe aufs Exempel liefern“.

In Berlin buhlten die rechten Strippenzieher derweil um die Gunst des greisen Reichspräsidenten Hindenburg. Nach einem enormen Intrigenspiel entlässt dieser den Reichskanzler Brüning. Hitler erklärt sich zur Tolerierung der Rechtsregierung unter Franz von Papen bereit, mit den Bedingungen: Auflösung des Reichstags mit Neuwahlen sowie Aufhebung des Verbots von SA und SS. Man kann sich ja nur an den Kopf fassen: die Schlägertrupps der SA wieder auf die Straße lassen und dann Neuwahlen veranstalten. Bei den Reichstagswahlen 1932 verdoppelt die NSDAP ihr Ergebnis auf fast 38 % und wird stärkste Fraktion im Reichstag. Selbst jetzt schreibt Volker Ullrich: „Alternativlos war auch diese Entwicklung nicht“. Nach wie vor hatten die einzelnen Personen den Lauf der Geschichte in der Hand. Wäre Hindenburg nicht von seinen Beratern gedrängt worden, Brüning zu entlassen, hätten erst im September 1934 wieder Reichstagswahlen stattfinden müssen. Zu einem Zeitpunkt hätte sich Konjunktur aller Voraussicht nach erholt und die Anziehungskraft radikaler Parteien nachgelassen. „Ohne Not bekam Hitler einen neuen Triumph auf dem Weg zur Kanzlerschaft.“ Jetzt aber fordert Hitler die Kanzlerschaft und die Schlüsselressorts in der Regierung. Hindenburg weigert sich, die Partei sei einseitig gegen andere eingestellt. Vor allem misstraut er wohl Hitler, ob dieser die Machtstellung des Reichspräsidenten weiterhin achten würde. Den Posten als Vizekanzler lehnt Hitler ab. Und jetzt bestand immer noch die Möglichkeit, Hitler von der Macht fernzuhalten, so Ullrich: „Hitler hatte zu hoch gepokert, stand als ein Mann da, dem es nicht um das Wohl des Landes ging, sondern nur darum, für sich und seine Bewegung die ungeteilte Macht zu erlangen.“ Bei den nächsten Wahlen am 6. November 1932 verlor die NSDAP vier Prozent der Stimmen, Austritte häuften sich, „die NSDAP drohte auseinanderzufallen, wenn sie nicht endlich die Früchte einer Machtbeteiligung ernten konnte“. Was dann folgte, war das „Ergebnis eines finsteren Ränkespiels, bei dem nur wenige Akteure die Strippen zogen.“ Von Papen, Hugenberg, Ribbentrop und Oskar von Hindenburg, der Sohn des Reichspräsidenten, überzeugten den Reichspräsidenten zu einem „Kabinett der nationalen Konzentration“ mit Hitler als Reichkanzler. Der Thüringer Wilhelm Frick wird Reichs-Innenminister, Hermann Göring kommissarischer Innenminister von Preußen, damit oberster Dienstherr der Polizei in der Hauptstadt. Hier endet die Weimarer Republik und hier endet auch das Buch. Nach Allem zieht Ullrich das Fazit, Hitlers Triumph sei war keineswegs ein „Betriebsunfall“ der deutschen Geschichte. Wir haben es in der Hand, ob unsere Demokratie scheitert oder überlebt. „Das deutlich zu machen ist das eigentliche Ziel dieses Buches“, schreibt Volker Ullrich. Und das ist dem Historiker hervorragend gelungen. Was das Buch besonders auszeichnet: Es kommen immer wieder Zeitzeugen zu Wort, nicht aus der Rückschau, sondern unmittelbare Beobachter und namhafte Kommentatoren: Theodor Wolff, Carl von Ossietzky, Kurt Tucholsky, Harry Graf Kessler, Victor Klemperer in Zeitungsartikeln, Briefen und Tagebüchern. Oft sind es hellsichtige tagesaktuelle Kommentare, viel öfter aber Fehleinschätzungen, aus heutiger Sicht waren selbst die klügsten Köpfe ihrer Zeit allzu oft naiv und haben die Bedrohung selbst kurz vor 1933 noch nicht erkannt. Fazit: ein unbedingt lesenswertes Buch, gerade heute.

Volker Ullrich: „Schicksalsstunden einer Demokratie – Das aufhaltsame Scheitern der Weimarer Republik, “ Verlag C.H.Beck, Erschienen am 11. Juli 2024, 383 S., mit 36 Abbildungen, Hardcover 26 Euro, E-Book 19,99 Euro, ISBN 978-3-406-82165-3, auch als digitales Hörbuch lieferbar

Blick ins Buch chbeck.de/ullrich-schicksalsstunden-demokratie

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert