Kriegsverbrecherprozess

Das Pressecorps in Nürnberg

Von Michael Schlag

Uwe Neumahr beschreibt in seinem Buch „Das Schloss der Schriftsteller“ das Pressecorps beim Nürnberger Kriegsverbrecherprozess. Den Tätern auf der Anklagebank saßen vielfach deren Opfer auf der Pressebank gegenüber. Wo kamen die Reporter her, welche Geschichte hatten sie selbst, welchen Blick auf Nazi-Deutschland brachten sie mit zum Prozess? Und wie prägte das ihre Berichte?

Geregeltes Verfahren für schlimme Verbrecher

Der Nürnberger Kriegsverbrecherprozess steht heute als ideale Vorstellung von internationalem Recht. Robert Jackson, der amerikanische Chefankläger, beschrieb es in seiner Eröffnungsrede: Die Sieger üben nicht Rache, sondern urteilen über die Besiegten nach den Gesetzen. Selbst die schlimmsten Verbrecher des Jahrhunderts werden nicht kurzerhand hingerichtet, sondern bekommen ein geregeltes Verfahren mit Anklägern, Verteidigern, unabhängigen Richtern. Dabei zählt der Nachweis der persönlichen Schuld.

Der Prozess war auch ein mediales Großereignis, Zeitungen und Funkhäuser schickten ihre Chefreporter und Edelfedern nach Nürnberg. Sie lebten alle gemeinsam im Schloss Faber-Castell, dort hatte die US-Armee das Press Camp für die Gerichtsreporter eingerichtet. Die Zeiten galten noch nicht als sicher, der Nürnberger Gerichtshof war massiv befestigt, von mehrfachen scharfen Kontrollen auf allen Etagen berichtete Erich Kästner. Gerüchte von flüchtigen SS-Leuten machten die Runde, die immer noch versuchen könnten, die Kriegsverbrecher aus dem Gerichtsgefängnis zu befreien.

Viele der internationalen Korrespondenten kannten Nürnberg bereits von den Reichsparteitagen. Die NS-Führung in ihrer Allmacht hatte man in Leni Riefenstahls Reichsparteitagsfilm gesehen. Zurück in der jetzt weithin zerstörten und halb entvölkerten Stadt beobachteten die Reporter auf der Pressetribüne fasziniert die Anklagebank und schienen „wie besessen davon, Mimik, Gestik und Verhalten der entthronten Götter zu beschreiben“, so Uwe Neumahr in dem neuen Buch „Das Schloss der Schriftsteller“ über das Pressecorps beim Nürnberger Kriegsverbrecherprozess.

Vertauschte Rollen

Bisweilen traf man sich noch einmal ganz persönlich wieder – allerdings in vertauschten Rollen. Goebbels‘ führender Radio-Propagandist Hans Fritzsche nun auf der Anklagebank mit Peter de Mendelssohn und Erich Kästner auf der Pressetribüne gegenüber, deren Bücher gleich 1933 öffentlich verbrannt wurden. Wilhelm Frick, der im Januar 1933 das politische Kabarett „Die Pfeffermühle“ von Erika Mann, Klaus Mann und Therese Giehse im Publikum eifrig bespitzelte – jetzt mit Erika Mann gegenüber auf der Pressebank, die sich nunmehr Notizen über Frick macht, den späteren Nazi-Innenminister auf der Anklagebank.

Manche der Reporter waren bereits Berühmtheiten als Kriegsreporter und Schriftsteller oder wurden es später noch. Und die Amerikaner brachten eine neue Art zu schreiben mit, die „new reportage“. Der Autor soll darin nicht nur die Fakten wiedergeben, sondern auch persönlich Zeugnis ablegen, er soll mit emotionaler Anteilnahme schreiben. Es darf eine Mischform werden aus Literatur und Journalismus.

250 Presseplätze gab es im Nürnberger Gerichtssaal, davon sieben in Rotation für deutsche Journalisten. Sie hatten einen gesonderten Ausweis und Eingang zum Gerichtsgebäude, denn es galt das Fraternisierungsverbot. Die Deutschen hatten auch keinen Zutritt zum internationalen Press Camp im Schloss Faber-Castell, sondern mussten sich selbst um eine Bleibe und Verpflegung im zerstörten Nürnberg kümmern. Allerdings gab es unter den internationalen Berichterstattern viele deutsche Exilanten mit mittlerweile amerikanischer, britischer, französischer Staatsbürgerschaft. Dort trafen sich erstaunliche Lebenswege.

Enorm gründlich gearbeitet

Markus Wolf, später Leiter des DDR-Auslandsnachrichtendienstes, berichtete für die sowjetische Presse und hatte als Bürger der Sowjetunion auch Zugang zum Press Camp im Faber-Schloss. Ebenso der spätere Bundeskanzler Willy Brandt mit norwegischer Staatsangehörigkeit, er berichtete ab November 1946 für die norwegische Gewerkschaftspresse vom Prozess in Nürnberg. Beide waren Verfolgte des Naziregimes, beide jetzt zurück aus der Emigration.

Mit welchem Blick würden die Gerichtsreporter auf die Anklagebank sehen? Saßen hier einzelne Verbrecher, deren Opfer auch die Deutschen waren, oder wurde hier Deutschland als Nation der Prozess gemacht? „Bei den meisten Korrespondenten war das Deutschlandbild von Aversionen geprägt“, schreibt Uwe Neumahr und erzählt die Geschichte anhand von einzelnen Teilnehmern auf der Pressebank. Das Buch „Das Schloss der Schriftsteller“ ist dabei enorm gründlich gearbeitet. Wo kamen die Reporter her, welche Geschichte hatten sie selbst, welchen Blick auf Nazi-Deutschland brachten sie mit zum Prozess? Und wie prägte das ihre Berichte?

Die wohl faszinierendste Erscheinung war Martha Gellhorn, die schon 1941 die Schreibenden zur Verantwortung rief: Je mieser die Welt sei, um so härter sollten die Schriftsteller arbeiten. Auch wenn er sonst nichts tun könne, um die Welt besser machen, so könne er zumindest aufzeichnen, denn „es ist die einzige Rache, die alle Opfer jemals bekommen werden: dass jemand klar aufschreibt, was mit ihnen passiert ist.“ Bekannt geworden mit Kurzgeschichten und fiktionalen Portraits von Opfern der großen Depression in den USA, wurde sie Kriegsreporterin im Spanischen Bürgerkrieg und berichtete aus Deutschland über den Aufstieg Adolf Hitlers. 1940 bis 44 verheiratet mit Ernest Hemingway waren sie Kollegen und erbarmungslose Konkurrenten. Am 6. Juni 1944 war Gellhorn die einzige Journalistin, die am D-Day mit den Truppen in der Normandie landete. Da sie keinen offiziellen Presseausweis hatte, „versteckte sie sich in einem Lazarettschiff und gab sich bei der Landung als Trägerin einer Trage aus.“ Und das zu einer Zeit, als man Reporterinnen noch abschätzig „girl correspondant“ nannte. Anfang Mai 1945, wenige Tage nach der Befreiung des KZ Dachau, war Gellhorn dort. Zuvor war sie bereits Kriegsreporterin in Finnland, Hongkong, Burma, doch „nichts am Krieg war jemals so wahnsinnig brutal wie diese verhungerten und misshandelten, nackten, namenlosen Toten.“ Von einem Überlebenden schrieb sie: „Vielleicht wird sein Körper leben und wieder Kraft erlangen, aber man kann nicht glauben, dass seine Augen jemals wieder den Augen anderer Menschen ähneln werden.“ Am 1. Oktober 1946 ist Gellhorn zur Urteilsverkündung in Nürnberg, und meint, dieser Prozess garantiere nichts für die Zukunft. Immerhin drücke sich hier die Hoffnung aus, dass er als Barriere gegen die kollektive Niedertracht, gegen Machtgier und den Wahnsinn jeder Nation dienen werde. Ihr (später abgegebenes) Urteil über die Deutschen bleibt aber unversöhnlich: „Ich denke, sie haben ein Gen locker.“

Warum es keine deutschen Richter gab

Wolfgang Hildesheimer wurde in Nürnberg als Dolmetscher von Otto Ohlendorf eingesetzt, dem Befehlshaber der „Einsatzgruppe D“ in der Sowjetunion. Jene Mördertruppe, die im Gefolge der Wehrmacht in den eroberten Gebieten sogleich Jagd auf Juden und Andersdenkende jeder Art machte. Die Dolmetscher in Nürnberg, so berichtet es Neumahr, „waren fast ausnahmslos Juden und europäische Flüchtlinge“, darunter auch Julia Kerr, Ehefrau des nach England geflohenen Schriftstellers Alfred Kerr. Und trotz Allem mussten sie die Täter mit Präzision und Professionalität übersetzen, auch alle ihre Lügen, Ausflüchte und Beschönigungen. Eine Übersetzerin berichtete, sie sei 21 Jahre alt gewesen, als sie ihre Arbeit in Nürnberg begann und zehn Jahre älter, als sie die Stadt vier Monate später verließ. Zudem mussten sie simultan dolmetschen, das war neu. Denn das konsekutive Satz-auf-Satz dolmetschen ins Englische, Französische und Russische hätte den Verlauf des Nürnberger Prozesses noch mehr in die Länge gezogen.

Warum gab es keine deutschen Richter in Nürnberg? Der spätere Bundespräsident Theodor Heuss, damals Chefredakteur der neu gegründeten Rhein-Neckar-Zeitung, wäre dafür gewesen, denn auch Deutsche sollten „die Sinndeutung des deutschen Schicksals aufnehmen und nach ihrem Verstehen dem schweren und langen Genesungsprozess dienen.“ Erika Mann war entschieden dagegen, man könne „den Deutschen nicht zutrauen, sich angemessen um ihre eigenen Kriegsverbrecher zu kümmern“. Sie glaubte auch nicht, dass es eine innere Umkehr der Deutschen geben werde. Ganz anders ihr Bruder Golo Mann, er gehörte als US-Kontrolloffizier zum Nürnberger Pressecorps. Er folgte nicht der These von der Kollektivschuld, sah in den Nürnberger Urteilen bisweilen sogar Willkür oder Zufall, wie er später in einem Brief an die Witwe von Generaloberst Alfred Jodl schrieb: „Der eine wurde hingerichtet, der andere durfte mitmachen beim Aufbau der Bundeswehr – ich übertreibe da nur ein klein wenig.“ Hartley Shawcross, der britische Chefankläger, plädierte in seinem Schlussplädoyer allerdings dafür, gleich alle Angeklagten als Mörder zu verurteilen. Damit für alle Zeiten klar werde, „Personen, die in Verletzung der Gesetze ihr eigenes Land sowie fremde Länder aggressiv in einen Krieg stürzen, tun dies letztlich mit einem Strick um den Hals.“

Uwe Neumahr: Das Schloss der Schriftsteller – Nürnberg ’46. Treffen am Abgrund, ISBN 978-3-406-79145-1, 304 Seiten, 26,00 Euro, e-Book 19,99 Euro

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