Verkehrsberuhigung macht auch Sorgen
Ab 14. August 2017 machen bis zu 30 000 Autofahrer pro Tag einen Bogen um die beiden Ortsteile von Wöllstadt. Die Anwohner der Ortsdurchfahrten können es noch garnicht richtig glauben. Wer dort sein Geld verdient, macht sich auch Sorgen. Hier einige Stimmen.
Menschen an der B3
Die Nahkauf-Betreiber von Ober-Wöllstadt
Seit Jahrzehnten betreibt Familie Röthig ein kleines Lebensmittelgeschäft an der Hanauer Straße in Ober-Wöllstadt. Die neue Umgehungsstraße bereite ihr „mehr Sorgen als Freude“, bekennt Sabine Röthig. „Es ist schon laut hier“, sagt sie. Doch sie und ihr Mann Dirk würden es deutlich im Geldbeutel spüren, wenn keine Handwerker und Vertreter mehr auf der Durchfahrt vor dem Nahkauf halten und mal eben Zigaretten oder Brötchen und Cola kaufen. Die Stammkunden allein könnten den Laden kaum am Leben halten. Sabine Röthig hat aber Hoffnung: „Ich glaube nicht, dass es hier sehr viel ruhiger wird. Denn wer von Assenheim oder Ilbenstadt kommt und über die K11 nach Rosbach und zur Autobahn will, der fährt weiter durch Ober-Wöllstadt und wird nicht den Umweg über die neue B3 machen.“ Höchstens dann, wenn die Ortsmitte allzu stark verkehrsberuhigt würde. Und das fänden die Röthigs nicht gut.
Weniger Autoverkehr auf der Hanauer Straße hätte auch Vorteile, meint Dirk Röthig. „Ich hoffe, dass die Eltern dann wieder Mut haben, ihre Kinder alleine rauszuschicken.“ So, wie es sein sollte. Momentan sei das zu gefährlich, denn immer wieder gebe es Autofahrer, die auch bei Rotlicht über die Fußgängerpassage an der Einmündung der Feldbergstraße brettern.
Die Reinhardts am Schmalwiesenweg
„Das Haus hier haben wir 1976 gekauft“, sagt Heidemarie Reinhardt. „Dann wurde es grausam.“ Mit den Jahren rollten immer mehr Motorräder, Autos und voll beladene Lastzüge nur Zentimeter am Wohnhaus vorbei. Es steht in Nieder-Wöllstadt an der zentralen Kreuzung. Den Zugang zur Ilbenstädter Straße musste das heutige Rentner-Ehepaar Reinhardt durch eine massive Ziegelmauer verschließen. Die Gefahr war zu groß, beim Verlassen des Grundstücks überfahren zu werden. Zweimal fuhren bisher Autos Teile der Mauer kaputt. Der Reifenabrieb und Dieselruß färbte im Laufe der Jahre den Kratzputz des alten Hauses dunkelgrau. „Wenn wir die Wand streichen, käme der Dreck gleich wieder“, schimpft Fritz Reinhardt.
Und der Lärm! Das Ehepaar hat sich auf eigene Kosten stark dämmende Fenster einbauen lassen. Dennoch scheppere immer mal der Rollladen, wenn ein Lastzug vorbei fährt. Das ganze Grundstück vibriert dann. Rund um die Uhr dröhnt der Verkehr an diesem Treffpunkt von fünf Straßen (Ilbenstädter, Friedberger, Frankfurter, Eisenbahnstraße und Schmalwiesenweg). Täglich befahren nach Verkehrszählungen etwa 30 000 Autos die Kreuzung. Abends und an Wochenenden proben Motorrad- und Sportwagenfahrer hier gern den Alarmstart, sagt Heidemarie Reinhardt. „In den Schmalwiesenweg brettern die auch mal mit 80 Sachen rein, obwohl hier nur Tempo 30 erlaubt ist. Da fliegen einem die Ohren fort. Und wenn man die an der Ampel anspricht, werden sie noch frech!“
Ab dem 14. August soll das ja anders werden. An der Kreuzung soll es praktisch keinen Durchgangsverkehr mehr geben. Doch die Reinhardts wollen sich noch nicht so recht darüber freuen. Sie können sich nicht vorstellen, dass es wirklich leise wird. Trotzdem hat Fritz Reinhardt schon mal eine Campingliege auf den betonierten Hof gestellt. Er deutet darauf und sagt: „Ich träume ja davon, im Sommer hier draußen zu liegen…“
Der Chef freut sich überhaupt nicht auf die neue Umgehungsstraße. „Ich rechne mit 20 bis 30 Prozent niedrigerem Umsatz“, sagt der Apotheker Rouzbeh Noushinfar. Denn etliche seiner Kunden an der Frankfurter Straße 52 in Nieder-Wöllstadt seien auf der Durchreise. Und hielten spontan an, um ein Schmerzmittel, Vitamintabletten oder die vom Arzt verordneten Medikamente einzukaufen. Die kommen nicht mehr, befürchtet der aus dem Iran stammende Pharmazeut, wenn die Umgehungsstraße fertig ist. Erst recht, wenn die Frankfurter Straße bald monatelang zur Sackgasse wird.
Die Apotheke gibt es an dieser Stelle schon seit 1960, und es ist die einzige in der knapp 6200 Einwohner zählenden Gemeinde. Wenn alle Wöllstädter sich bei ihr versorgen würden, könnte das die Verluste durch die Umgehungsstraße kompensieren. Rouzbeh Noushinfar würde sich darüber sehr freuen. Er müsse sich sicherheitshalber anderweitig orientieren. Doch lieber sei es ihm, die Apotheke mit den vier Arbeitsplätzen in Nieder-Wöllstadt zu halten. Und den alten Leuten aus dem Ort längere Wege zu ersparen.
Erst im vorigen März haben Michael und Sylvia Meisinger die erste Eisdiele Nieder-Wöllstadts eröffnet. Sie liegt an der Frankfurter Straße, die momentan noch vom Verkehr durchtost ist, bald aber monatelang Sackgasse sein wird. „Wir haben ja gewusst, was auf uns zukommt“, sagt der 39 Jahre alte Chef. Doch als er von der monatelangen Straßen-Komplettsperrung erfuhr, habe er schon schlucken müssen. „Für uns kommt es jetzt darauf an, den Winter zu überleben.“ Wenn die Stammkunden aus Karben bei „Lifti“ Eis schlecken wollen, müssen sie bald vorübergehend über die neue B3 bis kurz vor Ilbenstadt fahren, um ins Café zu kommen. Hoffentlich tun sie das auch weiter.
In den ersten Monaten wurde das mit einer Postagentur und Zeitschriftenladen kombinierte Café in der früheren Schlecker-Filiale gut angenommen. An sonnigen Tagen ist trotz des Verkehrslärms kaum ein freier Platz an den Tischen auf dem Bürgersteig zu bekommen. Um auch im Winter genug Umsatz zu machen, hat das Ehepaar Meisinger auch Brot und Süßgebäck aus einer Windecker Bäckerei ins Sortiment genommen. Die Verkehrsberuhigung auf der Frankfurter Straße ist für die „Lifti“-Leute auch eine Chance. Sie könnten draußen noch ein paar Tische mehr aufstellen. Und es wäre für die Gäste auch leichter, draußen einen Stellplatz fürs Auto zu finden, ohne die Einfahrten der Nachbarn zu blockieren.
Gleich neben der Shell-Tankstelle liegt die „Hinnerbäcker“-Filiale an der Frankfurter Straße in Nieder-Wöllstadt. Da arbeitet Katarzyna Pawlinski. „Unsere Kunden machen sich Sorgen, dass wir bald nicht mehr genug Umsatz machen“, berichtet die freundliche Frau. Viele kämen auch aus Ilbenstadt und Assenheim, um in Nieder-Wöllstadt Backwaren zu kaufen und an einem der Tische Kaffee zu trinken. Obwohl sie daheim doch auch Bäckereien hätten. Doch die Verkäuferin beruhigt ihre Kunden. Auch mit der Umgehungsstraße werde die Filiale bestimmt überleben. Die Wöllstädter und die Stammkunden aus den Nachbarorten hätten es ja selbst in der Hand, weiter von ihr, Katarzyna, bedient zu werden.
Mehr über die neue Bundesstraße 3 in Wöllstadt hier.
Ein Gedanke zu „Menschen an der B3“