Singen

So singen echte Kerle

Von Klaus Nissen

Ein bisschen angstbesetzt ist es schon: Die letzte Chorprobe fand im vorigen Jahrhundert statt – damals, in der Schule. Und jetzt, als gestandener Mann, noch mal singen? In Kauf nehmen, dass man sich als noten-unkundiger Brummbass blamiert? Andererseits lockt die Herausforderung. „Echte Kerle“ sucht der Gesangverein Frohsinn Nieder-Mörlen. „Deine Stimme zählt!“ proklamiert der Chorleiter. Also auf zum Selbstversuch!

Vor dem Singen Ärmeschlackern und Gähnen

„Ich bin davon überzeugt, dass jeder singen kann“. Der junge Mann behauptet das so einfach. Sebastian Witzel steht neben dem Klavier im Saal des Vereinshauses an der Fußgasse.

Ein Fläschchen in der Hand, ein Lied auf der Zunge – so lässt sich der Abend gut an. Der weitaus größere Teil der zweistündigen Chorprobe besteht allerdings aus konzentriertem Üben. Foto: Nissen.

Im Halbrund vor ihm stehen 21 Männer auf dem ockerfarbenen Fliesenboden. Einige von ihnen sind gut 50 Jahre älter als der 26-jährige Chorleiter und Frohsinn-Vize-Vorsitzende. Anstandslos lassen sie sich von ihm kommandieren. Schlackern mit den Armen. Heben die Schultern und lassen sie wieder fallen. Gähnen laut, weil das angeblich die Kiefer- und Halsmuskulatur singbereit macht.

Freibier inklusive

Und dann wird aus dem Gähnen plötzlich Gesang. „Jaoaoaoaaa!“ gibt Witzel vor. Und alle tun ihm nach, in immer höherem Tonfall.“Ja so, ja so, ja sohoho!“ Mindestens fünf Minuten lang. Auch der Chronist hört sich im Chor, als auf einmal Text und Melodie wechseln: „Niiieder-Mörlen ist der schönste Ort der Welt!!“ Immer lauter, immer lauter. Jetzt müssten die Nachbarn etwas mitbekommen.

Das ist nur der Auftakt. Einer der älteren Frohsinn-Herren gibt jedem Mitsänger Papierschnipsel, auf dem „Freibier“ steht. Es wird sogleich in 0,3-Liter-Flaschen an der Vereinstheke ausgegeben, weil ja Freitagabend ist. Und weil sich die sieben oder acht Neulinge in der Gruppe daran festhalten können.

Sebastian Witzel ist gerade Mitte Zwanzig, aber als Chorleiter schon ein alter Hase. Der aus Melbach stammende Nieder-Mörlener fungiert beim „Frohsinn“ zudem als Stellvertreter der Vorsitzenden Gudrun Mahr. Foto: Nissen

Günter Hummel, der schon lange im Gemischten Chor mitsingt, macht kein Hehl aus dem Motiv für Freibier und Kerle-Singen: Der Gemischte Chor brauche Verstärkung. Er bestehe aus 20 Damen, aber nur zehn Herren. Das sei nicht gut für den Klang. „Im vorigen Jahr haben wir auch schon einen Männerabend veranstaltet. Davon blieben vier Mann bei uns hängen.“ Noch ehe das Freibier aus ist, hat jeder Neuling den blauen Gutschein für eine weitere kostenlose Chorprobe. Man trifft sich immer freitags von 19 bis 20.30 Uhr an der Fußgasse 46. Auf dem Gutschein steht:“Ab Oktober starten wir unsere Vorbereitungen für unser Jahreskonzert 2026 – der perfekte Moment, um von Anfang an dabei zu sein!“

Aus dem Stand zum dreistimmigen Kanon

Noch legt sich keiner fest. Zunächst wird der Bier-Kanon von Walter Rein ausprobiert: „Bier muss kühl sein, sonst schmeckt es nicht, Bier muss kühl sein, sonst schmeckt es nicht. Ein Buddl Bier, zwei Buddl Bier, drei Buddl Bier, auf auf auf.!“ Und weil das ganz ordentlich klingt, teilt SebastianWitzel die Kerle im Halbrund nach Registern ein. Links die Tenöre, Baritone in der Mitte, rechts die Bässe. Noch ein Lied: „Da,wo man Bier trinkt und ein Lied singt, da ist herrlich, herrlich auf der Welt!“ Ab dem „herrlich“ sollen die drei Register nun unterschiedlich hoch singen. Was nach einer Weile steten Wiederholens auch einigermaßen gelingt. Nicht alle im Halbrund können Noten lesen. „Aber das Melodiegedächtnis ist bei jedem relativ gut ausgeprägt“, befindet der Chorleiter. Der im übrigen keine Gelegenheit auslässt, seinen Experimentalchor zu loben.

Einmal im Jahr lädt der Nieder-Mörlener Gesangverein mit Plakaten „Echte Kerle“ zum Singen ein. Einige kommen tatsächlich. Und bleiben. Foto: Nissen

Auch das nächste Lied ist huldigt dem Trinken: „Ein Pro-sit, ein Pro-sit der Gemüt-lich-keit!“ Aber dann fordert Sebastian (hier duzen sich alle), dass man nach der Gemüt-lich-keit ganz schnell „Wir singen noch einmal: ein Pro-sit, ein Pro-sit“ folgen lässt. „Das muss ein bisschen zügiger abgehen!“ Es klappt.

Das Melodie-Gedächtnis ist überraschend gut

Sogar eine Art Filmmusik von Vangelis. Sie heißt „Conquest of Paradise“, und die Melodie fließt aus einem vergessenen Gehirnwinkel plötzlich direkt in den Kehlkopf. „I no-mi-ne per-fi – de“ singen alle und ganz lange „ Aaa a ah, a aah a a aah!“ Sieht geschrieben lächerlich aus, klingt gesungen aber richtig gut.

Weiter so. Sebastian zieht mit den 21 Kerlen alle fünf Strophen von „Am Brunnen vor dem Tore“ durch. Im dreistimmigen Kanon. „Schön“, ruft er zum Schluss, „wenn man so eine geballte Manpower hat!“

Zum Höhepunkt wird „The Wellerman“ gesungen – ein lauter Shanty aus Neuseeland. Den Rhythmus klatschen alle auf den Schenkeln. Klingt gut und macht Spaß. So viel, dass Gerd nun überlegt, den Frohsinn-Gutschein für eine weitere kostenlose Chorprobe tatsächlich einzulösen. Der Endfünfziger hatte bis zur Corona-Pandemie in einem anderen Chor gesungen, Ihn reize das Gemeinschaftserlebnis, sagt Gerd. Und überhaupt: „Man trifft nicht gleich jeden Ton – aber irgendwann passt es.“

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