Rettungsdienst


„Es passiert ständig irgendwas“

Von Klaus Nissen

Etwa 30 Rettungswagen sind in der Wetterau unterwegs. Mal mit, mal ohne Blaulicht eilen die Teams zu Menschen, die dringend Hilfe brauchen. Von Karben aus fahren die Wagen des Arbeiter-Samariter-Bundes (ASB). Am Donnerstag bekam der Reporter die Chance, eine halbe Schicht mitzuerleben. Er lernte dabei das ABC ganz neu kennen. Und weiß jetzt, was sich Retterinnen und Retter sehnlich wünschen.

Auf Tour mit dem Rettungsdienst des ASB

Der erste Eindruck: Ganz schön eng hier! Im Umkleideraum der ASB-Rettungswache reicht der Platz nicht mal für eine Bank. Aus Metallregalen zieht man sich ein weißes Poloshirt, die rote Hose mit großen Beintaschen und gelben Signalstreifen. Dazu gibt es für den Kurzzeit-Praktikanten nagelneue Schuhe mit Stahlkappen an der Spitze.

Der Reporter in ASB-Kluft. Nach der halben Schicht ist er schwer beeindruckt von der Arbeit der Notfallretter. Foto: Filiz Orhanli

Dann das Briefing im Gemeinschaftsraum des Achtzigerjahre-Gebäudes an der Dieselstraße. Darin steht ein langer Tisch. Die Rettungswachen-Leiterin Melanie Deutinger stellt dem Neuling einen Riesenbecher mit Filterkaffee auf die Resopalplatte. Die Notärztin Dagmar Ortner setzt sich mit einem Frühstücksbrötchen dazu. Es ist kurz vor elf – der Dienst hat für sie schon um sieben begonnen.

Praktikanten sind willkommen, sagt Melanie Deutinger. Sie können ausprobieren, ob dieser Beruf für sie passt. Neues Personal wird dringend gesucht. Neun Azubis betreut der ASB Mittelhessen gerade in den Wachen Karben, Kloppenheim, Ilbenstadt und Wölfersheim. Ihr Einstiegs-Gehalt liegt bei 1180 Euro, steigt dann rasch an. Sie sollen engagiert und mental einigermaßen robust sein. Wer hier arbeitet, sieht auch mal „schlimme Dinge“, so Melanie Deutinger. Menschen nach schrecklichen Unfällen, in großer Not. Am meisten machen ihr verunglückte Kinder zu schaffen, bekennt Notärztin Ortner. Und wenn sie einem jungen Menschen nicht mehr richtig helfen kann.

Nicht jeder Einsatz ist dramatisch

Zum Glück geht es im Alltag oft banaler zu. „Ich bin auch schon mal zu Mückenstichen gefahren“, erzählt die Wachen-Chefin. Und ein als „Stanze im Unterarm“ gemeldeter Arbeitsunfall stellte sich als Nadel in einem Finger heraus. Insgesamt würden die Retter nicht übermäßig zu Bagatell-Fällen gerufen. Alles in allem „passiert ständig irgendwas.“

Die Patientin mit dem gebrochenen Arm liegt nun sicher im Rettungswagen. Der Notfallsanitäter redet mit ihr. Aus echtem Interesse. Und um herauszufinden, wie es der alten Dame geht. Foto: Nissen

Zeit für die Praxis. Der rund 250 000 Euro teure Mercedes-Rettungswagen wird zum dritten Einsatz des Tages gerufen. Der Reporter sitzt hinten neben der Krankentrage. Der Wagen schaukelt, die Klimaanlage hat hörbar Mühe, die Sommerhitze aus dem Ambulanzauto zu pumpen. „Verdacht auf Oberarmbruch“ hat die Friedberger Leitstelle dem Notfallsanitäter Leif Niklas Wulf und der Fahrerin Filiz Orhanli gemeldet.

Beim Sturz brach der Oberarm

Sie steuert den Mercedes durch enge Wohnstraßen. Rangiert ihn rückwärts vor ein Altenheim in der südlichen Wetterau. Wulf und Orhanli bugsieren die Krankentrage durch die Hecktür heraus. „Das Ding kostet so viel wie ein Mittelklassewagen“, sagt Wulf und klopft auf die Matratze. Sie ist hydraulisch verstellbar. „Jetzt müssen wir uns keinen Bruch mehr heben.“

Nach der Ankunft im Krankenhaus helfen Filiz Orhanli und Leif Niklas Wulf der hochbetagten Dame, die fahrbare Trage zu verlassen. Ins Untersuchungszimmer geht sie zu Fuß. Foto: Nissen

Die Patientin ist eine zierliche Dame in den hohen Neunzigern. Sie sitzt im Sessel und hält ihren rechten Arm. Im Korridor habe sie einer anderen Bewohnerin helfen wollen, die Tür aufzumachen. Dabei sei sie gestürzt. Nun schmerze die Schulter, sie ist leicht geschwollen. Leif Niklas Wulf biegt eine blaue Metallschiene zurecht, fixiert den Arm mit einer Binde und schiebt an der schmerzenden Stelle ein Coolpack ein. Der Reporter darf die Tasche fürs Krankenhaus der alten Dame hinterher tragen. Auf der Fahrt zum Unfallkrankenhaus (BGU) am Nordrand Frankfurts erzählt sie ihm eine Kurzfassung ihrer Lebensgeschichte.

Nach zehn Minuten ist die Aufnahme erledigt. Genauso lange tippt Leif Niklas Wulf danach das Einsatzprotokoll in ein Tablet, in dessen Schacht die Krankenkassenkarte der alten Dame steckt. Wulf freut sich, dass er damit bald die elektronische Krankenakte abrufen kann. Das erleichtere die Diagnose beim ersten Kontakt. Das auf eine meterlange Papierfahne gedruckte Protokoll gibt er im Krankenhaus ab. Dafür bekommt er den Transportschein für die Abrechnung. Die Fahrt kostet eine dreistellige Summe – manchmal auch mehr.

Der nächste Einsatz wird heikler

Das Handy vibriert. In der Nähe gibt es noch einen Einsatz. Filiz Orhanli kurvt durch die bürgerliche Siedlung, hält vor einem Einfamilienhaus. Im Wohnzimmer liegt der Hausherr mit der rechten Seite auf dem Teppich. Das Gesicht des etwa Fünfzigjährigen ist verzerrt.

Nach dem Einsatz schreibt der Notfallsanitäter noch vor dem Krankenhaus sein Protokoll. Die Fahrerin verstaut derweil das Material und putzt den Wagen dort, wo es nötig ist.

Leif Wulf versucht nach dem ABC-Schema möglichst genau herauszufinden, was los ist. Er schaut nach Blutungen, der Atmung, dem Puls, fragt nach Allergien, einer Diabetes oder anderen Krankheiten. „Wie groß sind ihre Schmerzen auf einer Skala von eins bis zehn?“ „Elf“ antwortet der Hausherr. Er habe zuvor den Kofferraum seines Autos beladen. Nun quäle ihn just die Bandscheibe, an der er einst operiert worden sei.

Wie kommt der 90-Kilo-Mann aus dem Haus?

Was nun? Leif und Filiz (wir sind inzwischen beim Du), breiten den Inhalt zweier Rucksäcke im Wohnzimmer aus. Legen Kanülen, schließen den Mann ans tragbare Elektrokardiogramm. Zum Glück kann er seine Zehen spüren. Er bekommt ein starkes Schmerzmittel, das ihn schnell beruhigt. Der Praktikant darf den Infusionsbeutel halten. Der Notfallsanitäter telefoniert das Krankenhaus an, nennt die dreistellige Kennziffer der vermuteten Diagnose.

Doch wie bekommt man einen Quasi-Gelähmten von gut neunzig Kilo in den Rettungswagen? Der blockiert gerade einen Linienbus. „Egal“, meint der Notfallsanitäter trocken. Zusammen mit Filiz, der Ehefrau und dem Reporter schiebt er den Patienten vorsichtig auf eine knallrote Plane mit Tragegriffen. Auf Kommando heben ihn alle gleichzeitig an und bugsieren ihn durch zwei Türen, den engen Flur hinaus. Das ist durchaus anstrengend.

Blick in den Notfallkoffer, der schon in viele Häuser getragen wurde. Schilder zeigen deutlich, was in welchem Fach verstaut ist. Foto: Nissen

Auf der Straße glotzen ein paar Leute. Zum Glück hat die Haustreppe nur vier Stufen. „Manchmal müssen wir die Patienten auch über eine enge Wendeltreppe bugsieren“, erzählt Leif auf der Fahrt ins Krankenhaus. Dann muss ein weiteres Rettungsteam anrücken.

Was sich Notfallsanitäter sehnlich wünschen

Während der Fahrt redet Leif mit dem leicht sedierten Patienten. „Eigentlich wollte ich heute Abend ins Fitness-Studio gehen“, sagt der Mann. Daraus wird nichts. Nach einer Stunde endet unsere Bekanntschaft in der Notfallaufnahme des Krankenhauses. Vor der Abfahrt bekommen wir mit, wie die alte Dame mit dem Armbruch zurück in ihr Wohnheim gefahren wird. Leif fragt nach der Diagnose. Sie hat tatsächlich gestimmt.

Gegen 16 Uhr rangiert Filiz den Mercedes in die offene Halle der Karbener Rettungswache. Bald übernimmt die nächste Schicht. Mit der Notärztin Dagmar Ortner stehen wir zum Abschluss-Plausch im ASB-Hof. Leif verrät seinen Traum: „Ich wüsste vor Feierabend wirklich gerne, welche Diagnose jeder Patient bekommen hat. Und wenn ich nur die ersten beiden Zeilen des Arztberichtes lesen dürfte…!“ Dagmar Ortner nickt. Alle wüssten gern, was aus den Leuten wird, die sie retten. Doch der Datenschutz ist unerbittlich.

Der ASB in Karben und Mittelhessen

Schon 18880 fanden sich im sozialdemokratischen Umfeld „Arbeiter-Samariter“ zusammen, die Fabrikarbeiter bei Arbeitsunfällen versorgten. In der NS-Zeit war die Organisation verboten. In der Wetterau wurde der Verband 1967 wieder gegründet. Seit 1972 ist der ASB zuerst in Kloppenheim, seit 1990 auch in Klein-Karben mit Rettungswachen präsent. An der Dieselstraße stehen Rettungswagen und Notarztfahrzeug samt Besatzung. Nach gewonnener Ausschreibung betreut der ASB ab 2026 auch die Rettungswache in Froschhausen bei Seligenstadt im Kreis Offenbach.

Filiz Orhanli und Leif Niklas Wulf vor ihrem Rettungswagen. Filiz (24) wollte nach dem Fachabitur zunächst Bauingenieurin werden. Im Freiwilligen Sozialen Jahr beim ASB merkte sie, dass der Rettungsdienst ihr besser liegt. Sie beginnt im Herbst die dreijährige Notfallsanitäter-Ausbildung. Leif ist Geschäftsführer der ASB-Rettungs- und Sozialdienste in Mittelhessen. Sein Schreibtisch steht in Offenbach. Trotzdem fährt der 45-Jährige manchmal im Rettungswagen, um die Praxis im Blick zu behalten. Foto: Nissen

Mit mehr als 500 Mitarbeitern betreibt der ASB Mittelhessen auch Wohneinrichtungen wie das Karbener Pflegeheim, Tagespflegen und eine Demenz-WG. Er betreibt ein Hausnotruf-System, organisiert Gesundheits-Kurse, verpflegt und betreut zahlreiche Schulkinder nach dem Unterricht.

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