„Armut ist ein brennend Hemd“
Den Kampf ums Überleben in Not und Elend schildert Annegret Held in ihrem Roman „Armut ist ein brennend Hemd“, der im 19. Jahrhundert im Westerwald spielt. Er könnte leicht auch anderswo spielen – und das Thema ist brennend aktuell.
Beschwerlicher Weg
Der neue Roman von Annegret Held „Armut ist ein brennend Hemd“ ist ein Buch mit vielen Toten. Im Mittelpunkt steht eine Familiengeschichte aus dem Westerwald. Doch ihre Figuren sind auch Stellvertreter für Menschen in anderen Gebieten wie der angrenzenden nördlichen Wetterau oder dem Vogelsberg. Gebieten, in denen die Menschen im 19. Jahrhundert angesichts von Krieg, Missernten und Hungersnöten ums Überleben kämpften. Viele ließen in diesem Kampf ihr Leben. Manche überlebten ihn nur, weil sie einen unsicheren und beschwerlichen Weg aus Not und Armut in fremde Länder wählten.
„Die Wege staubten im Sonnenlicht und die Gräser und Kamillen vor den Lattenzäunen waren so geschossen, dass sie Finchen um die Röcke rankten.“ Mit diesem Satz beginnt im Jahr 1806 der Roman, nicht aber das Buch, denn diesem stellt die Schriftstellerin auf zwei, drei Seiten voran, dass „meine Urgroßmutter Charlotte in Scholmerbach (lebte), so wie meine Mutter und meine Ururgroßmutter Bettchen und deren Mutter Finchen und meine Oma Apollonia“. Auch Annegret Held, die heute in Frankfurt lebt, wurde in Westerwald geboren, im Dorf Pottum. Schon in 2012 hat sie mit ihrer Familiensaga „Apollonia“ die Literaturkritiker begeistert. Was nicht ihr erster Erfolg war: Denn bereits mit ihrem Buch „Die Nachtgestalten“, das als Vorlage für die Fernsehverfilmung „Die Polizistin“ diente, war Annette Held erfolgreich. Die Produktion wurde mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet.
Als es weder Korn noch Kartoffeln gab
Die Schriftstellerin Annegret Held ist eine Frau mit einem facettenreichen Berufsleben. So arbeitete die alleinerziehende Mutter als Polizistin und Sekretärin oder war als Sicherheitsmitarbeiterin am Flughafen tätig. Doch der wesentliche Antrieb, der sie beim Schreiben umzutreiben scheint, ist die Geschichte ihrer eigenen Familie in einem kleinen Dorf im Westerwald, die stellvertretend für eine ganze Generation armer Dörfler im 19. Jahrhundert steht.
Scholmerbach ist ein Ort, in dem „die Rehe und Hasen Reißaus nahmen, und die Saat zertrampelt und zerfressen“ war. In dem es weder Korn noch Kartoffeln gab, Anfang des 19. Jahrhunderts und auch in den Jahren danach. In dem sich die Bauern nicht einmal mehr von ihren Feldern mit den nötigsten Lebensmitteln für ihre Familien versorgen konnten. In der sie nur eine „unbändige Verzweiflung und eine übermächtige Wut ergriff.“ Eine Zeit, in der die Truppen Napoleons, der sich 1804 selbst zum Kaiser gekrönt hatte, durch die deutschen Lande zogen. In der Georg Büchner seine Kampfschrift „Friede den Hütten, Krieg den Palästen“ verfasste. In der sich im Jahr 1848, im Jahr der Revolution, die Scholmerbacher entschlossen ,,den einheimischen Förster mit Steinen und Stöcken zu vertreiben.“ Wobei sie nicht die große Revolution im Sinne hatten, sondern einzig für ihr Überleben kämpften und die Aussichtslosigkeit ihres Unterfangens in viel, viel Branntwein zu ertränken suchten. In einer Gegend, in der nichts war, es nichts gab, „nur Armut und Säuerei“, wie es am Ende des Romans von Annegret Held heißt „wir hatten nichts, wir wurden nichts, hier im Westerwald war immer hungers verrecken und krepieren und da gab es nichts, wir hatten nichts, naut, naut, naut und noch mol naut.“
Dörfler zwischen Hungersnot und Revolution
Ein Zitat ihrer Altvorderen, das Annegret Held mit ihrem Buch entkräftet. Denn das Leben der Dörfler, aus deren Sicht es „gar nichts zou verzählen“ gab, erweckt sie zum Leben. Das Leben von Jakob, Fine, Heinrich und Konrad, der Minna, Gretel, von Rosa, dem Fritz, dem Klapper-Hannes und dem Berthelchen. Menschen für die eine ewige Litanei galt „Es gab nichts, wir hatten nicht, gar nichts, nur Not und kein Gebot.“ Dort, wo „das schwere Kreuz mit seinem unsichtbaren Herrgott hing“, wo 1815 im Jahr größter Hungersnot die „letzten Erntereste ersäuft und hausgeschwemmt werden sollten.“ Wo 1833 in der Gegend noch galt, dass „erst wenn das Kind oder zwei Jahre alt war, konnte man vielleicht ein Herz an es hängen und auch mal einen Doktor rufen, wenn es krank wurde.“ Wo im Vorjahr der Revolution, 1847, in der Spinnstube alle froh waren über die Anna, die den Burschen einen Kuss aufdrückte. Auf dass der Pfarrer Vinzenz bleiben mochte, wo der Pfeffer wächst. Wo 1848 im Januar die Scheunen leer waren, das Jahr, in dem der Gemeindediener Ludwig mit dem Gänsekiel im Gemeindebuch auflistete, an wen die Gulden des Herzog Adolph – „so segensreich“ an seine Untertanen in Scholmerbach verteilt werden sollten.
Jede Flucht bedeutet ein Stück Heimat zu verlieren
Auch sieben Jahr später sieht die Region erbärmlich aus mit ihren kahlgeschlagenen Wäldern. 1853, in dem das Bettchen „in das verwüstete Dorf ihrer Kindheit zurückkehrt“, in dem sie nur „ihre verhungerte und ausgedünnte Sippschaft“ fand, nachdem das Mädchen einem der Seelenfänger in die Fremde gefolgt war. Nach London, um nicht länger ein Esser mehr am eh nicht mehr gedeckten Tisch ihrer Familie zu sein. Mit einem „Beutelchen voller Gulden“ war sie zurückgekommen und mit den Geheimnis, wie sie zu diesen gekommen war.
Annegret Held hat ihr Buch „Für Pottum, meine Heimat, und für all diejenigen, die ihre Heimat verlieren, dass man ihnen hilft, wie man den Unsrigen geholfen hat, vor nicht allzu langer Zeit“ geschrieben. Und damit einen Roman, der zwar im 19. Jahrhundert spielt, dessen Thematik aber hoch aktuell ist: Der Kampf ums Überleben in Not und Elend, aus denen einzig die Flucht noch als Möglichkeit erscheint. Eine Flucht, die den Verlust von Beziehungen, von Vertrautem, von Zugehörigkeit, eben von Heimat bedeutet.
Annegret Held: Armut ist ein brennend Hemd, Eichborn Verlag, Hardcover, 367 Seiten, 22,- Euro, ISBN: 978-3-8479-0593-6