Liest aus „Leinsee“
Von Elfriede Maresch
Wen wunderts, dass das „Nidda erlesen“-Publikum auf „Leinsee“ gespannt war? Kritiken im Netz bewegten sich zwischen Enthusiasmus („…ein Roman, wild wie ein Gewitter und zart wie ein Hauch…“) und kühler Distanz („Seicht und unterhaltsam auf gehobenem Niveau“). Nun also kam die Autorin Anne Reinecke zur Lesung und zum Talk mit Martin Guth (Kulturmanagement Nidda) in den Parksaal, zeigte sich vor einem ungewöhnlichen Hintergrund. „Gottweiß, Klirrsilber, Universumsblau, Plastikschildkrötengrün, Kunstdruckorange, Föhnblond“ war in weißen Buchstaben auf der schwarzen Bühnenrückwand zu lesen.Im Gespräch mit Martin Guth
Die Worte beschwören Farben anschaulich herauf, sind Kapitelüberschriften in „Leinsee“. Mit solch einfallsreicher Gestaltung hatten die beiden jungen Frauen im Kulturmanagement, Alona Winter (FSJ) und Vanessa Raschke (Studienpraktikum) mitten in den Roman geführt. „Literatur und ihr Umfeld“ ist das Kernthema der Reihe „Nidda erlesen“, jetzt in ihrer achten Saison und gesponsort von der Stadt Nidda, der Ovag und der Sparkasse Oberhessen. Der schwierige Weg von der „Geschichte im Kopf“ bis zur Veröffentlichung auf dem überfüllten Buchmarkt wurde im Gespräch zwischen der Autorin und Guth deutlich. Anne Reinecke, 1978 geboren, war zunächst in Meißen, dann in Heidelberg aufgewachsen und studierte Kunstgeschichte und Neuere Deutsche Literatur. Auch als sie für Theater-, Film- und Ausstellungprojekte sowie direkt mit einer Künstlerin arbeitete und als Berliner Stadtführerin tätig war, verlor sie ihren Kindheitswunsch „Schriftstellerin werden“ nicht aus den Augen. Erfahrungen mit Künstlern in ihrem Freundeskreis flossen ein, als sie die „Leinsee“-Handlung zu entwickeln begann: „Ich habe die Hauptfiguren wie im Film vor mir gesehen!“
2011 nahm Reinecke Kontakt zum Literarischen Kolloquium Berlin auf, bewarb sich bei der „Autorenwerkstatt Prosa“ und legte dort ihr Manuskript vor. Nicht selten bei jungen Autoren: eine Ablehnung kam – und eine Ebene neuer Kontakte, denn durch ein Versehen hingen die Mailadressen sämtlicher Abgelehnten daran. Ein Netzwerk Schreibender entstand. In Berlin fand sich das „Autorenkombinat Kommando Torben B.“ zu regelmäßigen Arbeitstreffen zusammen. Reinecke macht dort mit. Sie riskierte 2012 eine Neubewerbung, wurde angenommen, unterstützt und vor wenigen Monaten gelang die Veröffentlichung in einem renommierten Schweizer Belletristik-Verlag.
Wie in einer Glasglocke
Reineckes Figuren haben eine sperrige Identität: der noch junge künstlerisch tätige Karl, Hauptfigur des Romans, ist unterwegs nach Leinsee, dem Haus und der Werkstatt seiner Eltern. Beim Rattern des Zuges muss er sich selbst sortieren, will seine smarte, geschäftstüchtige Freundin Mara noch nicht dabei haben. Vorbei sind die Glamourtage seiner Eltern Ada und August Stiegenhauer, noch kürzlich Megastars der internationalen Kunstszene, von den Medien gehätschelt. Jetzt liegt die Mutter mit einem Hirntumor im Krankenhaus, fast sterbend. Der Vater will ohne sie nicht weiterleben, hat sich erhängt. Es liegt nicht nur an den aktuellen Katastrophen, dass Karl wie in einer Glasglocke durch das idyllische Haus samt See, Garten und alten Obstbäumen wandert. „Unbehaust“ war er hier auch als Kind, früh ins Eliteinternat abgeschoben, bestenfalls Ornament in der Lebenssymbiose seiner smarten Eltern, zu denen er den Kontakt abgebrochen hat. So ist er völlig überwältigt, als sich die Mutter erholt, wieder sprechen kann, sich ihm ungewohnt liebevoll zuwendet. Die nächste Enttäuschung: Bald merkt er, dies alles gilt nicht ihm – sie verwechselt ihn mit seinem Vater.