Von der Rolle der Stasi als Parasit
von Jörg-Peter Schmidt
Die DDR und ihre unselige Stasi bilden einen Schwerpunkt im Roman „Raumfahrer“ des in Kamenz (sächsische Oberlausitz) aufgewachsenen Autors Lukas Rietzschel. Er las kürzlich in der Mediothek der Clemens-Brentano-Europaschule (CBES) in Lollar (Kreis Gießen) aus seinem Buch, in dem die realen Brüder Günter und Hans-Georg Kern, der sich den Künstlernamen Georg Baselitz gegeben hat, eine Hauptrolle spielen.
Warum das Buch „Raumfahrer“ heißt
Der mit dem sächsischen Literaturpreis ausgezeichnete Lukas Rietzschel, dessen erste Erzählung „Mit der Faust in die Welt schlagen“ von den Bewohnern von Neschwitz im Braunkohle-Gebiet in Oberlausitz in der Zeit ab 2000 handelt, erläuterte in der Veranstaltung des Literarischen Zentrums Gießen (LZG) im Gespräch mit der Moderatorin Dr. Kirsten Prinz, warum sein zweiter Roman „Raumfahrer“ heißt: Beschrieben werden Menschen, die irgendwie im leeren Raum hängen, sich heimatlos und verloren fühlen, nicht wissen, wo sie hingehören.
Ex-DDR–Regionen wurden zu Geisterstädten
Beispiele für solche „Raumfahrer“ gibt es in dieser teilweise auf wahren Tatsachen beruhenden Geschichte viele: Versehrte Heimkehrer nach dem von Hitler und seinen Schergen initiierten Zweiten Weltkrieg und dann später die von der Stasi gepeinigten Bewohner in der DDR, deren ehemalige Bürger nach der Wende feststellten, dass sich nicht nur ihr Staat aufgelöst hat, sondern sich auch Dörfer und Städte in geisterhafte Gebilde verwandeln, deren Bevölkerung sich von Tag zu Tag reduziert. Rietzschel hat in seinem Buch das Beispiel Hoyerswerda ausgewählt: Viele ehemalige Bewohner sind nach der Wiedervereinigung dorthin nicht mehr zurückgekehrt. Ganze Straßenzüge mit ehemaligen Plattenbau-Wohnblöcken fielen dem Abriss zum Opfer. So Mancher, der in dieser Stadt geblieben ist, gehört auch zu den „Raumfahrern“.
Günter Kern und berühmter Bruder in Hauptrollen
Die Handlung in dem Roman beginnt damit, dass der in der Lessing-Stadt Kamenz lebende Jan, der im Pflegedienst arbeitet, von einem älteren Herrn einen Karton erhält, in dem sich zahlreiche Dokumente befinden. In diesem Schriftmaterial verbirgt sich die Geschichte rund um Günter Kern und seinen berühmten Bruder Georg sowie weiterer Angehöriger der Familie Kern wie Mutter und Vater der Brüder.
Wie die Stasi in Menschenleben eingriff
Die Leserinnen und Leser verfolgen typische DDR-Schicksale: Georg Kern verlässt 1958 die DDR und beginnt seine Karriere als Maler im Westen; sein Bruder will ihm dorthin nachfolgen, was durch den Bau der Mauer 1961 verhindert wird. Und dann taucht in „Raumfahrer“ nach und nach wie eine dunkle Wolke die Stasi auf, die Briefe der Brüder abfängt und Spitzel einsetzt. Inoffizielle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Ministeriums für Staatsicherheit dringen als Parasiten in das Privatleben von Günter Kern und seiner Frau ein, die von den Machthabern als republikfeindlich eingestuft werden. In der Wohnung der Kerns werden Wanzen installiert. IM-Denunzianten liefern Berichte über das Ehepaar ab, deren Leben nun ein einziger Alptraum ist.
So mancher IM setzte nach der Wende Karriere fort
Dieses Szenario beruht auf Tatsachen der Beschreibungen von Günter Kern und seiner Frau Eva-Maria. Sie haben die Stasi-Dokumente in einer Broschüre („Unser Leben und die Stasi“) zusammengefasst, die nach der Lesung in der Lollarer Mediothek für die Zuhörerinnen und Zuhörer erhältlich war. Wie es nach der Wende tatsächlich geschehen ist, hat so mancher Spitzel nach der Wende seine Karriere fortsetzen können. In „Raumfahrer“ lesen wir ab Seite 237 über einen IM „Lessing“, dessen Auftrag es war, zu Günter Kern ein „freundschaftliches Verhältnis“ aufzubauen. Rietzschel verrät, wie es nach dem Fall der Mauer mit diesem IM weiterging: Aufgrund der Zusammenarbeit mit der Stasi verlor er in Sachsen sein Zulassung als Anwalt. Als Rechtsanwalt durfte er aber dann in Thüringen arbeiten. Kein Einzelschicksal.
Georg Kern alias Georg Baselitz verließ DDR frühzeitig
Der Schriftsteller verklärt keineswegs den Westen, wenn er die DDR beschreibt, deren Bewohner sich Nischen suchten, um gute Momente zu erleben. Wenn man das im Verlag dtv erschienene Buch zu Ende gelesen hat, überlegt man, wie das Leben der realen Brüder Günter und Hans-Georg (bekannt auch für seine Bilder auf dem Kopf) wohl verlaufen wäre, wenn Walter Ulbrichts tolldreister Satz „Keiner hat die Absicht, eine Mauer zu bauen“ Wirklichkeit geworden wäre…
Der Roman ist empfehlenswert. Ein Kapitel – meiner Meinung nach ohne Notwendigkeit in dem Buch – ist allerdings befremdlich: Ein Hund wird erschossen, brutal beschrieben. Die Szene ist einfach unerträglich und ärgerlich.
„Raumfahrer“ (dtv-Verlag) gibt es gebunden für 22 Euro und als Taschenbuch für 13 Euro und in einer Hörversion.
Titelbild: Moderatorin Dr. Kirsten Prinz und Lukas Rietzschel im Gespräch. (Fotos: Jörg-Peter Schmidt)