Die nutzlose Show der Moral
von Michael Schlag
Wir wollen gute Menschen sein und das auch zeigen, denn moralischer Charakter verschafft Anerkennung und Attraktivität. Dagegen ist ja erstmal nichts zu sagen. Doch Moral wird immer mehr zu einem inszenierten Statussymbol – und befeuert durch die sozialen Medien wird die öffentliche Diskussion zum „Moralspektakel“. So heißt das im vergangenen Jahr erschienene Buch des Philosophen Philipp Hübl mit dem Untertitel „Wie die richtige Haltung zum Statussymbol wurde und warum das die Welt nicht besser macht.“ Er beschreibt darin, wie dieses Moralspektakel entstanden ist, und warum es so negative, geradezu zerstörerische Folgen hat in Politik und Gesellschaft – auf Kosten der wirklich wichtigen Themen von Gerechtigkeit und Solidarität.Bedeutungsloses Diskutieren
Bei der Lektüre von einem guten Sachbuch fällt immer mal wieder der Groschen. Vielleicht hat man hundert Seiten gelesen und merkt für sich: Jetzt habe ich für den Rest des Lebens was kapiert, das mir vorher nicht so klar war. Beim Lesen des Buches „Moralspektakel“ fällt ein Groschen nach dem anderen, in jedem Kapitel mindestens einmal. Warum diskutieren wir so intensiv und heftig über Fragen, die eigentlich bedeutungslos sind und die nichts mit den großen Themen unserer Zeit zu tun haben wie Leben und Tod, Krankheit, Krieg, Gewalt, soziale Gerechtigkeit? Stattdessen Themen wie diese: Welcher Comedian darf welchen Witz machen? Muss man Straßen umbenennen, weil der Namensgeber aus dem 17. Jahrhundert nicht so tolerant war wie wir heute? Darf ein heterosexueller Schauspieler eine homosexuelle Figur spielen? Darf eine Übersetzerin mit weißer Hautfarbe ein Gedicht übersetzen, das eine Frau mit dunkler Hautfarbe geschrieben hat? Muss sich eine deutsche Politikerin dafür entschuldigen, dass sie als Kind gerne „Indianerhäuptling“ gespielt hat? Die Reihe ließe sich endlos fortsetzen.
Symbole für den Status
Vordergründig haben alle diese Themen mit Moral zu tun, „aber es geht dabei nicht um substanzielle, es geht um symbolische Fragen“, schreibt Hübl. Moralische Begriffe und Urteile werden darin nicht eingesetzt, um tatsächliche Probleme des Zusammenlebens zu lösen und echte Missstände zu beseitigen. Sondern sie müssen herhalten „als Symbole für Status und Gruppenzugehörigkeit oder als Waffen, um Macht und Einfluss auszuüben.“ Denn harmlos ist das überhaupt nicht, es entsteht daraus eine Einschüchterungskultur mit katastrophalen Folgen für den Einzelnen.
Meinung ohne Fakten
Nur ein Beispiel, das Buch ist voll davon: Die Engländerin Maya Forstater sagte, sie respektiere jeden, wie er ist, aber sie glaube nicht, dass Menschen ihr biologisches Geschlecht ändern können. Das wird ihr vom Arbeitgeber, der NGO Center for Global Development als transfeindlich ausgelegt, sie wird deswegen gefeuert. J.K. Rowling, die Autorin der Harry Potter Bücher, nimmt Partei für Maya Forstater, dafür werden von linken Aktivisten ihre Bücher verbrannt. Die Fakten dazu sehen aber so aus, wie Hübl schreibt: „Jeder der 110 Milliarden Menschen in der Menschheitsgeschichte ist aus der Verschmelzung von Eizelle und Samen entstanden“, die zwei Geschlechter sind nun mal biologisch gegeben. Was man persönlich oder sozial daraus macht, bleibt jedem selbst überlassen.
Aber das Moralspektakel hat mit Fakten nichts zu tun. Noch ein Beispiel, diesmal aus der Filmbranche: Seit 2024 wird kein Oscar mehr an Filme vergeben, in denen nicht mindestens eine Frau, eine PoC (Person of Color), ein Mitglied einer sexuellen Minderheit in Haupt- oder Nebenrolle erscheint. Dabei sei wohl fraglich, schreibt Hübl, „ob man für mehr soziale Gerechtigkeit in der Gesellschaft sorgt, indem man die Preisvergabe innerhalb einer Gruppe neu sortiert, in der fast jeder Millionär ist.“
Billige Signale
Philipp Hübl ist Philosoph und fragt sich folglich, was das Alles noch mit der universellen Ethik der Menschenrechte zu tun hat, mit globaler Gerechtigkeit, eben mit den ganz großen Fragen der Moral? Die Antwort: gar nichts mehr. Es geht jetzt um moralisches Prestige: das Richtige tun, aber vor allem „merken die anderen, dass wir das Richtige tun?“ Die Selbstdarstellung steht im Vordergrund, „während die tatsächlichen Probleme und der Kampf gegen reale Missstände in den Hintergrund geraten.“ Das Alles ist billig zu haben. Moralisch handeln und jemandem wirklich dauerhaft zu helfen, das wäre, so Hübl, ein „kostspieliges Signal“. Moralische Emotionen durch das Aussenden von Sprache überdeutlich kommunizieren ist dagegen ein „billiges Signal“. Alle können mitspielen, ohne sich anzustrengen. Für den eigenen moralischen Status muss man nicht mal objektive Gründe nennen, sondern „subjektive Befindlichkeiten gelten als Argumente“. Es reicht, wenn eine Person sagt, sie fühle sich diskriminiert oder ihre Gefühle seien verletzt worden. Das kann die Religion betreffen, das Geschlecht, die Herkunft, die Hautfarbe, die sexuellen Vorlieben – ein falscher oder auch nur falsch verstandener Satz darüber, und man ist öffentlich geächtet. Anders herum stiftet die neue Moralkultur zu Ersatzhandlungen an, etwa eine Online-Petitionen zu unterzeichnen, anstatt das eigene Handeln zu ändern.
Aber wie kam es dazu, wie hat sich dieses inhaltsfreie Spektakel in den etwa 15 vergangenen Jahren entwickelt? Der Philosoph nimmt uns mit auf eine lange Reise. Schicht für Schicht deckt er die gesellschaftlichen Entwicklungen auf, sehr gründlich und immer spannend. Über den Ursprung der Moral und was der Steinzeitmensch davon hatte. Über die Entwicklung der Gesellschaft von der autoritär-maskulinen hin zur fürsorglich-femininen und die Formen dazwischen. Eigentlich war es ein enorm positiver Werdegang, aber warum ist das jetzt so umgekippt? Warum muss man sich mittlerweile hüten, in seiner Sprache bloß keinen falschen Ton anzuschlagen, und warum polarisiert das Moralspektakel die Gesellschaft? Eine Gesellschaft übrigens, die in Deutschland die beste ist, die wir jemals hatten. Und so lässt einen das Buch am Ende auch nicht ratlos zurück. Das letzte Kapitel über „die Zukunft des Zusammenlebens“ zeigt auf, wie wir diesem Moralspektakel wieder entkommen können.
Philipp Hübl: Moralspektakel Wie die richtige Haltung zum Statussymbol wurde und warum das die Welt nicht besser macht, ISBN: 978-3-8275-0156-1,Verlag Siedler 290 Seiten 26,00 €
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