Eisiges Schweigen flussabwärts
Von Michael Schlag
Michael Thumann, Korrespondent der ZEIT in Moskau, hat ein neues Buch vorgelegt: „Eisiges Schweigen flussabwärts“. Darin nimmt Thumann seine Leser mit an Orte, an die man – gerade in diesen Zeiten – selbst wohl niemals hinkommt und man trifft Menschen, mit denen man selbst nie sprechen könnte. Das Buch schildert Begegnungen und Erlebnisse im heutigen Russland als eine Art politischer Reisebericht; es vermittelt eine unübertroffene Nähe zu den Menschen in Putins russischem Reich und in den benachbarten Ländern.Land in Angst
Der Mann hat Mut, das muss man ihm lassen. Seit Jahren ist Thumann ein sehr kritischer Begleiter der Entwicklungen in Russland und ein gefragter Gast in politischen Talkshows in Deutschland. Spätestens seit der Verhaftung – eher der Geiselnahme – des Reporters Ivan Gershkovit vom Wall Street Journal ist kein westlicher Journalist in Russland mehr sicher. Die meisten haben Russland längst verlassen oder wurden von ihren Redaktionen abgezogen. Michael Thumann berichtet weiter, über Russland, seine Menschen, über die Gesellschaft, es ist wohl einfach sein Lebensthema.
Oft ist das beklemmend zu lesen: Ein Land in Angst und die Angst beginnt gleich beim Überschreiten der Grenze. „Bei jedem Warten in der Schlange vor der Passkontrolle frage ich mich: Liegt gegen mich irgendetwas vor? Lassen sie mich noch rein? Werden sie mich festhalten? Und: Lassen sie mich wieder raus?“ Mit dem Überschreiten der Grenze ist man im Land der Willkür und deshalb solle man in Moskau tunlichst darauf achten „nicht unnötig irgendwelchen Beamten in die Arme zu laufen.“ Bloß nicht auffallen, immer in Deckung bleiben, so machen das alle hier.
Mit dem Fahrrad durch Moskau
Eine Methode: Thumann bewegt sich mit dem Fahrrad durch Moskau. Das hat ganz praktische Gründe. Man steht nicht im Stau, wird nicht ständig von der Polizei angehalten, sondern kann „überall schlank und unerkannt auf dem Rad durchschlüpfen.“ Und man macht Bekanntschaften, die man aus dem Dienstwagen heraus nie machen würde. Ein Fahrradbote aus Usbekistan gibt ihm Tipps, wie man durch Unterführungen von einer auf die andere Seite der Stadtautobahn gelangt. Zwei Fahrradfahrer kommen leicht ins Gespräch (fließendes Russisch vorausgesetzt): Wie und wo lebt dieser Mensch in Moskau, wie kam er aus Usbekistan hierher, was ist seine Geschichte?
Mit der Polizei diskutiert man nicht
Auf dem Fahrrad kommt man auch besser mit der Polizei zurecht, denn „mit der Polizei diskutiert man besser nicht“. Und der weiße Mercedes C 180 als früheres Dienstfahrzeug war in diesem Umfeld einfach zu kompliziert. Das Nummernschild wies ihn als Korrespondenten aus und „da wusste jeder Polizist: erstens Mercedes, zweitens Deutscher, drittens Geld.“ Einige Dollarscheine und ein paar Halbliterflaschen Wodka sollte man stets dabeihaben, um die Polizei zu besänftigen. Aber „wenn ich heute mit dem Fahrrad mit Rucksack daherkomme, denkt der Polizist: erstens sein Geld reicht nur für ein Rad, zweitens vielleicht riecht er nach Schweiß, drittens Pizza hatte ich heute schon“ – und fahre unerkannt weiter.
Keine Stadt für Schwache
Hinaus aus der Stadt, erst durch das Regierungsviertel, dann den Fluss entlang, hinein in die Vorstädte, mit einmal, der Wegführung folgend, mitten auf der Autobahn, und man begreift: „Moskau ist keine Stadt für Schwache.“ Weiter zu den Siedlungen der Einwanderer am Stadtrand, bis hin zum Bruder jenes Pizzaboten von der Stadtautobahn in Moskau. Thumann wird als Journalist von einem zum nächsten weitergereicht, das passiert immer wieder. Einfach los ohne Furcht, kleinen Spuren folgend, immer neue persönliche Verbindungen knüpfend. Immer tiefer in die Lebenswelten dieses Landes, welcher Korrespondent macht das noch. So kann man nur als Zeitungsmann arbeiten, der allein unterwegs ist.
Putins ewiger Krieg
Bedrückend das Kapitel „Putins ewiger Krieg“ und der Bruch des Landes mit dem Westen: „Putins Wende nach Osten ist keine für die Menschen. Sie weigern sich, China und Nordkorea als neue Sehnsuchtsorte zu erschließen. Es fällt schwer in Bejing einen Ersatz für Berlin, in Pjöngjang eine Alternative für Paris zu entdecken.“ Der Krieg ist untrennbar Teil dieser Herrschaft. „Ohne dauerhaften Krieg mit dem Westen kein Putin. Deshalb muss der Krieg weitergehen, egal, ob aus der Nähe oder auf Distanz, ob heiß, kalt oder hybrid“. Die Herrschaft Putins ist eine einzige Abfolge von Kriegen – Tschetschenien, Georgien, Syrien und jetzt die Ukraine. Mittlerweile durchdringt er die Erziehung und die Welt der Kinder, im Unterricht der Schulen, mit alten Panzern als Klettergerüsten auf Spielplätzen.
Im Nachtzug durch die Steppe
Wieder auf Reisen, „im Nachtzug durch die Steppe,“ nach Kasachstan mit jungen Männern, die vor dem Militärdienst fliehen, „sie suchen im Ausland Schutz vor der Heimat“. Thumann trifft russische Flüchtlinge auch in Georgien, in der Hauptstadt Tbilissi. Er nimmt sich immer die Zeit, Menschen, Orte, Häuser genau zu beschreiben, bevor wir eintreten. Diesmal ins „Auditorija“, mit Café, Buchladen, Arbeitsraum und Bühnenkeller und damit „eine Enklave eines anderen, besseren Russlands im Südkaukasus“. Was der Korrespondent dort macht? „Wir sitzen an der Kaffeebar und verplaudern den Nachmittag.“ Spricht mit einem ehemaligen russischen Polizisten, der in das Nachbarland geflohen ist, weil er den Dienst nicht mehr ertrug und die Stimmung im Land. „In Russland beobachten sich die Menschen gegenseitig. Man flüstert wieder. Blickt ängstlich über die Schulter.“ Eisiges Schweigen – der Begriff taucht wiederholt in dem Buch auf, immer wieder in anderen Zusammenhängen, und er benennt das Lebensgefühl in dem Land.
Die russischen Freunde
Dann schreibt Thumann wieder mit Wärme und Zuneigung von seinen Freunden in Russland, von einem Nachmittag in einer Datschensiedlung bei Moskau. „Wir zogen in der Siedlung von Holzhaus zu Holzhaus, wurden mit Suppe und Fleisch versorgt, mit Tee, Wein und Wodka abgefüllt und redeten die Köpfe heiß bis tief in die Nacht“. Allerdings war das im Januar 2022 und „die Datschengemeinschaft, eine Gruppe von Moskauer Intellektuellen, existiert heute nicht mehr. Die meisten haben Russland nach dem neuerlichen Überfall auf die Ukraine verlassen.“
Willkür an der Grenze
Wieder auf Reisen, diesmal die westliche Grenze. Von der russischen Exklave Kaliningrad über die Memel nach Litauen, das Titelbild des Buches zeigt die historische Königin-Luise-Brücke. Aber zuerst die Zollkontrolle. Der Grenzbeamte blättert endlos im Pass herum. Telefoniert lange. Nach einer halben Stunde kommt ein Vorgesetzter, es geht weiter in einen großen Raum. Gemeinsam mit einigen usbekischen Händlern wieder warten vor einer Bürotür, ein Offizier der Grenztruppen stellt Fragen. Koffer und Taschen werden durchsucht, dann ein Mann mit Rollkragenpulli, erkennbar Geheimdienst. „Kommen Sie mit.“
Kontrolle, Befragung, Kontrolle
Das alles schildert Michael Thumann so nüchtern in jedem Detail, es schnürt einem beim Lesen die Luft ab und bekommt das Gefühl: nur raus hier. Doch diese Nacht dauert noch, rein in eine Containerbude, erneute Befragung. Dann ist der Pass ist weg, dann taucht er wieder auf. Schließlich zu Fuß über die Brücke, doch das war immer noch nicht die Ausreise. Auf der Brücke wieder „halt stehenbleiben.“ Noch eine Kontrolle, noch einmal Reisepass kontrollieren, wieder telefonieren. Dann endlich rüber nach Litauen, in die Europäische Union, Pass zeigen, einreisen – und der Reisende wie auch der Leser atmen tief durch.
„Eisiges Schweigen flussabwärts“ ist geschrieben aus der persönlichen Perspektive des langjährigen Korrespondenten, seine Begegnungen und Erlebnisse, die Menschen, mit denen er gesprochen hat. Flüssig geschrieben, immer spannend und über die Reiseberichte hinaus politisch aktuell und mit historischem Tiefgang. Unbedingt lesenswert.
Michael Thumann: Eisiges Schweigen flussabwärts -Eine Reise von Moskau nach Berlin, Verlag C.H.Beck 2025, 284 S., mit 19 Abbildungen und 2 farbigen Karten, ISBN 978-3-406-83003-7 Printausgabe 26 Euro, E-Book 20 Euro€
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