Zonen der Angst
von Michael Schlag
1998 lief es „wie geschnitten Brot, Rot-Grün lag in der Luft“, erinnert sich Michael Roth, SPD-Kandidat im Wahlkreis Hersfeld-Rotenburg, Nordhessen, sozialdemokratisches Stammland. Lafontaine, Scharping, Engholm, Eichel, die damaligen Parteigrößen reisten an und unterstützen den Neuling im Wahlkampf. Roth bekommt 51,7 % der Erststimmen bei der Bundestagswahl am 27. September 1998. Gerhard Schröder wird Bundeskanzler und Michael Roth ist mit 28 Jahren und Direktmandat dabei. Die kommenden 27 Jahre wird er Mitglied des Bundestages sein, bei jeder Wahl bestätigt – solange, bis er nicht mehr kann. Und er wird bald erfahren: Himmel und Hölle liegen im Bundestag nah beieinander, ganz besonders in der SPD-Fraktion.Abgebrühte Machtstrategen
Politisch aktiv ist Michael Roth schon seit zehn Jahren, angefangen im Ortsverein der SPD. Über diese Jahre von Wiedervereinigung und Zerfall der Sowjetunion schreibt er: „Damals gab es einen fast schon utopischen Überschuss an Hoffnung, der uns in vielerlei Hinsicht den Blick auf die Wirklichkeit trübte.“ Im September 2001 tritt Putin im Deutschen Bundestag auf, spricht auf Deutsch über gemeinsame europäische Werte, über Russland als demokratische Nation. Mittendrin neben Roth die anderen SPD-Neulinge am Anfang ihrer Karrieren: Hans-Peter Bartels, Hubertus Heil, Eva Högel, sie „gehörten alle zum Flügel der undogmatischen Reformsozialisten innerhalb des Juso-Verbandes.“ Und wie wurden sie empfangen von den „abgebrühten Machtstrategen“ in der SPD-Fraktion? „Im Umgang mit ihren neu gewählten Kolleginnen und Kollegen präsentierten sich ihre Protagonisten mit einer Arroganz und toxischen Männlichkeit, die kaum zu überbieten war.“
Zonen der Angst
Freundlich, gar vertrauensvoll, geht es hier selten zu, gefragt ist vor allem Linientreue. In dem jetzt erschienenen Buch „Zonen der Angst“ beschreibt Michael Roth das Innenleben der SPD-Fraktion im Bundestag, menschlich kommt kaum eine der SPD-Größen dabei gut weg. Von Schröder habe man viel lernen, ihn auch für vieles bewundern können, „aber wie er sich aufführte, wie er Leute in den Senkel stellte, das fand ich abstoßend.“ Oder über Lafontaine beim Wahlkampfauftritt 1998: „Als er dann in Bad Hersfeld wie ein Gladiator einzog, zeigte er keinerlei Interesse an meinem Team und mir. Viele Spitzenpolitiker agieren so. Aber er war einer unangenehmsten.“ Das hat schon etwas von Abrechnung, die Geschichte ist längst darüber hinweg.

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Heimkehr Osteuropas
Ganz anders, wenn Michael Roth über die Außenpolitik von damals schreibt, die wirkt bis heute nach, und nicht zum Guten. Nach zehn Jahren als Hinterbänkler übernimmt Roth hohe außenpolitische Ämter in der Regierung und im Bundestag. Und erinnert an kapitale Fehleinschätzungen deutscher Politik: Mittelosteuropa habe man im Grunde weiterhin dem Sowjetreich zugerechnet, für die mittelosteuropäischen Staaten selber sei die EU-Osterweiterung 2004 aber wie eine Heimkehr gewesen, und „diese Rückkehr der mittelosteuropäischen Gesellschaften nach Europa haben viele im Westen bis heute nicht verstanden.“ Roth tritt mit Leidenschaft dafür ein, auch Georgien, Moldawien, Ukraine schneller und stärker an die EU zu binden. Diese Überzeugung gewinnt er sehr glaubhaft aus vielen Begegnungen mit den fortschrittlichen Kräften in diesen Ländern. Aus der Sicht von regierungskritischen Demonstranten in Georgien hat die Aussicht einer EU-Mitgliedschaft einen ganz anderen Stellenwert als in Brüssel, Berlin oder im eigenen gut geheizten Wohnzimmer.
Neues deutsches Biedermeier
Überhaupt die Merkel-Jahre: Roth nennt sie „neues deutsches Biedermeier“ mit Rückzug ins Private und einem „politischen Stillstand, in dem eine Mehrheit lieber eine vertraute, unauffällige Ordnung verwaltete.“ 2013 wird Frank-Walter Steinmeier erneut Außenminister und holt Michael Roth als Staatsminister für Europa ins Auswärtige Amt. Und erfährt dann, nicht zum ersten Mal, dass auch in der SPD eigene und abweichende Meinungen nicht unbedingt gefragt sind. Im Juni 2014 spricht Roth sich für die Lockerung des Stabilitäts- und Wachstumspaktes aus und lernt seinen Parteichef und Vizekanzler Sigmar Gabriel kennen: „Nach besagtem Interview blökte mich Gabriel vor versammelter SPD-Mannschaft an, wie ich auf eine derart dumme Idee kommen könnte, den Italienern auch noch ihre vermaledeite Schuldenpolitik schönzureden.“
Konflikten mit Sitzfleisch begegnen
Acht Jahre blieb Roth Staatsminister für Europa und diente in der Zeit den drei Außenministern Steinmeier, Gabriel und Maas. Manchmal ist es ein wenig Tratsch, aber sowas liest man je gerne. Für Steinmeier und Gabriel beschreibt er als Habitus der Macht „sich überwiegend mit Männern zu umgeben, die Nächte zum Tag zu machen und Konflikten vorwiegend mit Sitzfleisch zu begegnen.“
Die nächste EU-Erweiterung habe er zunächst skeptisch gesehen. Westbalkan, Georgien, Moldau, Ukraine, sie drohten doch „das fragile Gebilde der EU noch komplizierter zu machen.“ Diese Auffassung habe sich bei ihm fundamental geändert, Roth spricht gar von einer Art Erweckungserlebnis, in der Begegnung mit den Menschen dort: „Auf einmal hörte ich nicht mehr nur das übliche Gejammer über die europäische Bürokratie und die Bürgerferne der Brüsseler Institutionen, sondern traf auf überwiegend junge, hervorragend ausgebildete, fließend Englisch sprechende, neugierige Menschen, die mir enthusiastisch von ihrem Traum von Europa erzählten.“
Strategielose Tölpelei
Doch die Länder wurden vertröstet, es gab immer wieder neue Bedenken und neue Hürden, und Roth findet: „Über so viel strategielose Tölpelei kann man nur den Kopf schütteln.“ Die EU habe im westlichen Balkan Erwartungen über viele Jahre hinweg enttäuscht, „sodass Diktaturen und autoritäre Regime in das von uns hinterlassene Vakuum vorstoßen konnten.“ Viel früher schon hätte man die Haltung der osteuropäischen Länder ernst nehmen sollen, denn „im östlichen Europa lag der Schatten Russlands über allem“, und „Deutschland oder der EU stand es nicht zu, diesen Menschen die Tür vor der Nase zuzuschlagen.“ Auch Polen und die baltischen Staaten hätten viel früher gemahnt, der russische Imperialismus müsse durch Wehrhaftigkeit, Verteidigungsfähigkeit und Abschreckung eingehegt werden, denn „diese Staaten hatten in ihrer Geschichte schmerzhaft erfahren, wie sich russische Fremdherrschaft anfühlt.“ Steinmeier dagegen warnte noch 2016 vor „lautem Säbelrassen und Kriegsgeheul“ der NATO gegenüber Russland.
Befreiung und neue Diktatur
Zwei Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung wurde im Westen verdrängt, dass der 8. Mai 1945 für die osteuropäischen Länder „eben kein Tag der Befreiung gewesen war, sondern der Startschuss für ein Leben unter einer neuen Diktatur.“ Erst Außenminister Heiko Maas bezeichnete Russland im Frühjahr 2018 als „zunehmend feindseliges“ Regime, das sich selbst „immer mehr in Angrenzung und teilweise Gegnerschaft zum Westen“ definiere. Und stand mit dieser Ansicht in der SPD allein. Die SPD-Größen Ralf Stegner, Rolf Mützenich, Manuela Schwesig, Stephan Weil und Dietmar Woidke seien im Bundesvorstand regelrecht ungehalten gewesen, erinnert sich Roth, und „kein relevanter Sozialdemokrat sprang Maas (und mir) in den Gremien und in der Öffentlichkeit bei.“
Ruhiger, eiskalter Ton
Am 2. Juni 2019 wirft Andrea Nahles als Parteivorsitzende und Fraktionsvorsitzende hin und Michael Roth erinnert sich an ihre letzte Fraktionssitzung: „Mächtige Strippenzieher der Fraktion zerlegten sie in ruhigem, eiskaltem Ton. Der Umgang mit Nahles zeigte mir, welche Schlangengrube unsere Partei geworden (oder vielleicht immer gewesen) war.“ Die führenden Leute ließen ihre Chefin im Regen stehen, um bloß selbst keinen Schaden davonzutragen und Roth wird langsam klar. „Mit meiner Art, Politik zu machen, drohte ich psychisch Schiffbruch zu erleiden.“
Die Ersten in der Ukraine
Nach der Bundestagswahl 2021 wird Michael Roth Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses. Am 11. April 2022 fährt er als erster deutscher Politiker gemeinsam mit zwei anderen Ausschussvorsitzenden von den Ampel-Parteien in die Ukraine (mit Anton Hofreiter Grüne/Europa und Marie-Agnes Strack-Zimmermann FDP/Verteidigung). Das allerdings war ein erneuter Affront gegen die SPD-Spitze, denn in der Zeit galt: „Wer den Kanzler unterstützte, reiste nicht in die Ukraine.“ Man warf ihm Kriegstourismus vor, fortan galt er als illoyaler Nestbeschmutzer. Als er dann auch noch öffentlich die Lieferung von Leopard 2 an die Ukraine forderte, „hörte Mützenich (SPD-Fraktionsvorsitzender) von heute auf morgen auf, mich auf den Fluren des Bundestages zu grüßen.“ Roth nimmt Auszeiten, macht seine psychische Erkrankung öffentlich und beendet vor der Bundestagswahl 2025 seine politische Karriere.
Michael Roth: Zonen der Angst – Über Leben und Leidenschaft in der Politik. ISBN 978-3-406-83781-4, Erschienen am 18. September 2025, 302 Seiten, Hardcover 26,- €, als E-Book 22,99 €
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