Niemand kränkt mich ungestraft
An dieser Stelle wagt der Neue Landbote ein literarisches Experiment: Er veröffentlicht einen Kurzkrimi. Die Geschichte spielt in Krofdorf-Gleiberg, ist aber kein typischer Regionalkrimi. Der Autor Martin Wagner wuchs hier auf, lebt aber seitJahrzehnten in Köln. Der freiberufliche Fernsehregisseur hat mit der Geschichte über einen verschwundenen Schüler Anfang 2017 einen Literaturpreis der Gießener Allgemeinen gewonnen. Inzwischen schreibt der 59-järige Jung-Autor seinen dritten Kriminalroman. Das erste längere Werk „Im See“ ist als E-Book bei Amazon erschienen. „Niemand kränkt mich ungestraft“ können die Landbote-Leser an dieser Stelle für einen geringen Betrag über Laterpay lesen.
Niemand kränkt mich ungestraft
Als das Telefon auf seinem Schreibtisch klingelte, stellte er den Band mit Erzählungen von EdgarAllan Poe in die Vitrine zurück. Zärtlich strichen seine Finger über die matt glänzenden Buchstaben auf dem Ledereinband, der im Laufe der vielen Jahre brüchig geworden war. Dieser Anblick löste eine tiefe Melancholie in ihm aus, aber er erfüllte ihn auch mit Stolz. Das Buch war eine seltene Erstausgabe. Sein größter Schatz. Schon immer hatte er alte, wertvolle Dinge geliebt. Und so erschien es ihm selbst nur folgerichtig, dass er jetzt
Leiter des Amtes für Denkmalschutz war. „Nemo me impune lacessit…niemand kränkt mich ungestraft…“, zitierte er lautlos – und mit einem Bedauern schloss er die Glastür, als das Klingeln des Telefons unerbittlich in seine Tagträumereien eindrang.
Mit einem Seufzen hob er den Hörer ab. Er ahnte schon, um was es ging, bevor es seine Sekretärin im Vorzimmer aussprach. „Dr. Schmidt? Frau Berger ist wieder am Apparat“, sagte sie. Er schwieg.
„Sie ruft noch einmal wegen der Genehmigung an.“ Er sagte noch immer nichts. „Sie will sich nicht damit abfinden“, fuhr seine Se-
kretärin fort. ‚Sie will sich nicht damit abfinden…’, dachte er.
Das war so typisch. So typisch sie. Allein schon, damit sie diesmal nicht ihren Kopf durchsetzen konnte, hätte er ihre Bitte abgelehnt. Allein schon deswegen!
Aber eigentlich war es ja gar keine Bitte, es war ein offizieller „Antrag auf Öffnung des zugemauerten, vermutlichen Eingangs zum Tunnel zwischen der Burg Gleiberg und der Burg Vetzberg“, unter-
zeichnet von Ute Berger, Vorsitzende des Burgenvereins im Kreis Gießen. Was für eine Geschichte! Immer noch spukte die
Legende, dass es einmal in grauer Vorzeit einen Gang zwischen den Burgen Gleiberg und Vetzberg gegeben habe, in den Köpfen der Leute herum. Jede wirkliche oder vermutete Besonderheit in den
Mauern der Burg Gleiberg rief irgendwelche Phantasten auf den Plan, die hinter unregelmäßig verbauten Steinen gleich den Zugang zu diesem ominösen Tunnel vermuteten. Und tatsächlich kon-
zentrierten sich in den letzten Jahren die meisten Bemühungen dieser seltsamen Forscher, die bei anderer Gelegenheit wahrscheinlich UFOs nachjagten, auf ein Stück Mauer im hinteren Teil der Burg, das ein wenig in Torform gemauert war. Er lachte bitter auf. „Was soll ich ihr sagen? Soll ich durchstellen?“, fragte seine Sekretärin. „Nein, warten Sie, ich muss nachdenken.“ Bei der Ablehnung des Antrags hatte er seinen ganzen Einfluss geltend gemacht. Die Begründung war unanfechtbar: Aus Denkmalschutzgründen lehne man es kategorisch ab, historische Bausubstanz zu zerstören.
Einer weiteren Diskussion darüber, inwieweit dieser Teil der Mauer wirklich aus dem Mittelalter stammte oder doch erst nachträglich in der Neuzeit errichtet worden war, war man konsequent aus dem Weg gegangen. „Jedenfalls bis jetzt…“, seufzte er leise. Denn genau darüber wird Ute jetzt mit mir herumstreiten wollen, dachte er und seine Mundwinkel zogen sich nach unten.
Er hatte nicht immer so auf Ute Berger reagiert. Im Gegenteil. Der bittere Zug um seine Mundwinkel verstärkte sich noch. „Ute“, flüsterte er lautlos. Ute, die herrliche, schlanke, unbändige Ute. Damals war sie 15 und er nur zwei Monate älter. Er hatte sie geliebt. Vergöttert. War verrückt nach ihr gewesen. Und auch wenn heute die Rente nicht mehr weit entfernt war, erschien ihm auf einmal die Vergangenheit so viel näher. Ja, er hatte sie geliebt. Einen verzweifelten Sommer lang. Ihre Nachmittage nach der Schule hatten sie beide oft oben in der Ruine zugebracht. Dort war man
ungestört. Der Turm war noch nicht renoviert worden, und überhaupt waren Besucher damals dort selten. Erst viele Jahre später wurden die Restaurierungen abgeschlossen, die man zu ihrer Jugendzeit nur vereinzelt unternommen hatte. Damals war das noch ihre Burg gewesen: der Gleiberg.
Ute wohnte direkt oben am Berg in der Nachbarschaft der Ruine, aber er selbst musste jedes Mal von Krofdorf aus, das im Tal lag, den beschwerlichen, steilen Weg hochsteigen, was er aber für sie gern auf sich nahm. Alles hätte er für sie getan. In jenen Schultagen sehnte er mit aller Kraft die Sommerferien herbei. Dann würden Ute und er herrliche Stunden miteinander verbringen. Wenn er in Gießen, der nahen Kreisstadt, im Gymnasium schwitzte, voller Vorfreude aus dem Fenster schaute und in die gleißende Sonne blinzelte, malte er sich in prachtvollen Farben sein Leben mit Ute aus. Ich Idiot, dachte er. Ich dummer, blöder, schwachsinniger Idiot! Seine Hand krampfte sich um den Telefonhörer. „Dr. Schmidt…“, hörte er seine Sekretärin besorgt fragen. „Ja, ja, gleich…“, presste er heraus. Er atmete ein paar Mal tief ein und aus, um sich wieder zu beruhigen.
Gedankenverloren blickte er auf den Computermonitor auf seinem Schreibtisch direkt vor ihm. Der Bildschirmschoner zauberte immer neue bunte Kreise auf den schwarzen Hintergrund. Als er ohne Regung auf die sich unendlich wiederholenden Ringe starrte, reiste Dr. Rolf Schmidt wie hypnotisiert in der Zeit zurück. Er ist wieder oben auf dem Gleiberg. Als er durch das verfallene Tor zum hinteren Teil der Ruine geht, scheint ihm die Sonne direkt ins Gesicht und
er muss blinzeln. Da ist sie, wie immer. Sein Herz macht einen Sprung, und er will schon laut nach ihr rufen, als er gegen die Sonne einen zweiten Schattenriss erkennt, der neben ihr auf der Mauer
sitzt. Dr. Schmidt atmete schwer. Er stützte sich mit beiden Armen auf seinem Schreibtisch auf. Immer noch hielt er den Telefonhörer fest umklammert. Er bekam nicht mit, dass ihn seine Sekretärin wieder ansprach.
Da war er. Das war Klaus. Danach war nichts mehr wie vorher. Selbst wenn er die Augen schloss, konnte er dieses Bild nicht mehr verdrängen. Diese Silhouette hat sich tief in seiner Netzhaut eingebrannt. Klaus, der mit seiner frisch geschiedenen Mutter über die Sommerferien bei Utes Eltern zu Besuch war. Klaus, der schon einen Führerschein hatte, Klaus, der Fußball spielte. Klaus, der 30 Klimmzüge schaffte. Klaus, der von Ute mit Blicken bedacht wurde, die er selbst so ersehnt und nie bekommen hatte. Verfluchter Klaus.
Die Sommerferien verbrachte man trotzdem zusammen. Ute und Rolf. Und Klaus. Während Ute und Klaus mittlerweile fast ungeniert turtelten, saß er immer dabei, schaute betont desinteressiert in
den wolkenlosen Himmel oder las ein Buch, das er sich schon in Erwartung dessen, was kommen würde, von zu Hause mitgebracht hatte. Klaus, der am Anfang zwar einen etwas überheblichen, aber dennoch freundlichen Ton ihm gegenüber angeschlagen hatte, wurde im Laufe der Ferientage immer abfälliger und aggressiver, um ihn zu vertreiben, um allein zu sein mit Ute.
„Was liest Du da bloß wieder?“, fragte er ihn eines
Nachmittags, als sie zu dritt in der Ruine zusam-
mensaßen. Sein Ton triefte vor Verachtung, ei-
gentlich war er vollkommen desinteressiert, und
offensichtlich zielte seine Frage nur darauf ab, ihn
irgendwie fertig zu machen.
„Eine Geschichte von Edgar Allan Poe“, sagte Rolf
vorsichtig.
„Und um was geht es da?“, hakte Klaus nach. Er
saß immer noch betont lässig neben Ute, die sich
leicht an seine Schulter lehnte.
„…einer will seinen Feind einmauern und verspricht
ihm ein Fass Amontillado…“
„Was?“, unterbrach ihn Klaus mit lauter Stimme,
„Amonti-was?“
„Amontillado, das ist…“
„Was für ein Quatsch!“, unterbrach ihn Klaus. „Ein
Fass Bier wäre mir jetzt lieber!“ Und er wieherte
laut los über seinen schalen Witz. Ute lachte
pflichtschuldig mit.
Überhaupt hatte Ute in diesen Sommerferien sich
ganz auf die Seite von Klaus geschlagen. Vertei-
digte sie am Anfang Rolf noch gegen Klaus‘ Angrif-
fe, so erschien es Rolf später, dass sie selbst sei-
ner ständigen Anwesenheit überdrüssig wurde.
„Ah, mein kleiner Aufpasser ist wieder da“ war nur
eine ihrer harmlosesten Bemerkungen.
So vergingen die Sommertage, und während die
beiden sich miteinander beschäftigten, lenkte sich
Rolf ab, indem er zwei Maurer beobachtete, die
angefangen hatten, Teile der Ruine auszubessern.
Nur um nicht zu sehen, wie Klaus seinen Arm um
Ute legte, wie sie ihn verliebt von unten anschaute,
wie sie ihn küsste, verfolgte er scheinbar interes-
siert, wie die Männer den Mörtel anrührten und
Stein um Stein verfallene Mauerreste wieder auf-
bauten.
An einem der letzten Tage der Ferien schlenderte
er zu den Maurern hinüber, und er bemerkte, dass
sie ein paar Meter unter ihm in einer Mauer im
ehemaligen Kellergeschoss der Burg eine Öffnung
freigelegt hatten, die offenbar vorher nur notdürftig
und nicht fachgerecht verschlossen gewesen war.
Es war Freitagnachmittag, und die Sonne brannte
heiß vom Himmel, als er von seiner erhöhten Posi-
tion aus über die Schulter der beiden Männer hin-
weg in ein freigelegtes Loch starrte. Seine Augen
waren noch geblendet von der ihn umgebenden
Helligkeit und er konnte kaum etwas erkennen. Er
meinte so etwas wie eine Art Höhle zu sehen, aber
sicher war er sich nicht.
Auch die Maurer schienen überrascht, und sie rich-
teten sich auf. Rolf wich schnell zurück und duckte
sich hinter einen Mauerrest.
Aus der Entfernung konnte er zwar sehen, wie sie
miteinander sprachen, aber er verstand nicht, wo-
rüber sie stritten. Er erahnte nur, dass der eine
wohl von Feierabend sprach, weil er ständig auf
seine Uhr schaute. Schließlich schienen sie sich
geeinigt zu haben, und auch wenn der Maurer, der
offenbar mit seiner Arbeit für heute Schluss ma-
chen wollte, missmutig schien, verschlossen sie
doch die Öffnung jetzt wieder ordentlich mit alten,
aber besser passenden Steinen. Dann legten sie
ihr Werkzeug zusammen und packten es in die
Kiste, die sie schon seit Beginn ihrer Arbeiten je-
den Abend in der Ruine gelassen hatten. Rolf
wusste längst, wo sie den Schlüssel dazu in einer
Mauerritze versteckten. Vor Montag würden sie
nicht zurückkommen.
Als sie endlich gegangen waren, stieg er vorsichtig
herab zu der reparierten Stelle. Seine Neugier war
geweckt, und was sonst hätte er auch tun sollen?
Ute und Klaus vermissten ihn bestimmt nicht.
Der Mörtel war noch nicht hart geworden, und mit
Hilfe seines Taschenmessers konnte er mit einiger
Mühe einen Stein aus der Mauer lösen und her-
ausziehen. Bei den anderen ging es dann leichter.
Aber auch wenn er jetzt direkt vor der Öffnung
stand, konnte er nicht mehr erkennen als vorher
auch. Hier in diese Ecke der Ruine kam kein direk-
tes Sonnenlicht hin, und ohne Taschenlampe
schaute er nur in eine Schwärze, deren Ende er
nicht erfasste.
Als Rolf zurück zu Ute und Klaus ging, wollte er
ihnen sofort von seiner aufregenden Entdeckung
erzählen, aber sie waren schon gegangen. Es
kränkte ihn, dass sie sich nicht einmal die Mühe
gemacht hatten, nach ihm zu rufen.
„Frau Schneider?“
„Ja, Dr. Schmidt?“
„Ist Frau Berger noch in der Leitung?“
„Ja, wollen Sie sie sprechen?“
„Bitte warten Sie kurz, ich muss gerade noch…“,
und dann schwieg Dr. Rolf Schmidt wieder.
Tags darauf. Die Sonne färbte sich schon orange
und stand kurz über dem Horizont, als Ute auf die
Uhr sah. Sie sprang erschreckt hoch und rief: „Ich
muss los, meine Eltern bekommen Gäste – der
Chef meines Vaters. Kommst Du, Klaus? Du
musst Dich ja auch noch umziehen!“
Klaus verzog das Gesicht. „Muss das sein? Ich
habe auch gar keinen Hunger.“
Das war gelogen. Das wusste Rolf. Klaus wurde
noch unausstehlicher, wenn er nichts gegessen
hatte, und die ersten Anzeichen dafür hatte Rolf
gerade vor kurzem am eigenen Leib gespürt.
Ute zuckte nur mit den Schultern. „Wie Du willst“,
sagte sie schnippisch. „Ich bin weg.“ Und sie rann-
te los.
Als sie durch das Burgtor verschwunden war, sa-
hen sich Klaus und Rolf an. Rolf schlug die Augen
nieder.
Klaus ging auf Rolf zu. „Na, du Loser, was machen
wir jetzt?“
Rolf wich zurück. „Eigentlich wollte ich auch…“
„…nach Hause?“ Klaus grinste und stieß ihn kräftig
gegen die Brust. Rolf stolperte und fiel hin. Dabei
rollte die Taschenlampe, die er sich heute Morgen
eingesteckt hatte, aus dem Rucksack.
„Was willst Du denn damit“, frug Klaus und hob
interessiert die Lampe auf.
Rolf wollte schon mit einer Lüge antworten. Doch
dann zögerte er und sah Klaus von unten herauf
nachdenklich an. Klaus gab dem sitzenden Rolf
einen Tritt. „Sag schon!“
Rolf stand auf und klopfte sich betont lässig die
Hosenbeine ab. Dann blickte er Klaus direkt in die
Augen: „Ich habe eine Höhle entdeckt.“
Dr. Rolf Schmidt atmete schwer.
„Dr. Schmidt?“
„Ja…ja, ja… noch eine Sekunde…“
„Ja“, sagte Rolf, als sie vor der dunklen Öffnung
standen. „Hier ist es.“
Klaus schob ihn zur Seite und schaute neugierig
hinein. Die Dämmerung hatte schon eingesetzt
und mit dem Verschwinden der Sonne wurde es
zunehmend dunkler. „Gib mir mal die Taschen-
lampe“, sagte Klaus brüsk, und ohne sich umzu-
sehen streckte er seine rechte Hand nach hinten
aus. So bemerkte er auch nicht den hasserfüllten
Blick, mit dem Rolf seinen Hinterkopf bedachte,
bevor er die schwere Stablampe zögerlich in seine
Handfläche legte.
Klaus war völlig fasziniert von dem, was er sah.
„Das ist richtig groß!“, rief er aufgeregt, und er
machte Anstalten, in den Hohlraum hinter der Öff-
nung zu steigen. Dann überlegte er es sich anders
und drehte sich zu Rolf um. „Du bist kleiner, Du
passt leichter durch.“
Rolf kletterte vorsichtig durch die Mauer und ließ
sich auf der anderen Seite herabgleiten. Da ging
es tiefer hinunter, als er gedacht hatte, und ängst-
lich rief er: „Du musst mir leuchten, das ist hier
ganz tief!“ Und schon fast hysterisch: „Halt mich
fest!“
Klaus wollte schier platzen vor Lachen, aber den-
noch leuchtete er in den dunklen Hohlraum, und
Rolf erkannte, dass seine Füße nur gerade 10
Zentimeter über dem Boden baumelten. Mit rotem
Kopf ließ er sich herunter. Der Raum war doch
eher eng, und als sich Klaus hinter ihm durch die
Öffnung zwängte, standen sie dicht beieinander.
Immerhin konnten sie aufrecht stehen. Klaus ließ
das Licht der Lampe über die Wände der kleinen
Höhle wandern.
„Da ist etwas“, flüsterte Ralf.
„Wo“, frug Klaus zurück. Auch er flüsterte, und es
kam ihm komisch vor – so als ob sie in einer Kirche
wären. Er wollte schon mit einem lauten Lachen
die Stille durchbrechen, als er es auch sah.
Auf Höhe ihrer Knie erweiterte sich der enge
Raum. Da schien es irgendwie weiter zu gehen.
„Du bist kleiner“, sagte Klaus und schubste Rolf.
„Ich weiß“, sagte Rolf und seine Mundwinkel zuck-
ten verächtlich. Mit den Füßen voran zwängte er
sich in die Öffnung. „Gib mir die Lampe“, sagte er,
und rutschte weiter in den Tunnel hinein. Schon
bald konnte er aufrecht sitzend weiterrutschen,
und im Lichtstrahl sah er, dass sich der Durchgang
immer mehr weitete. Nach etwa zehn Metern
konnte er sich schon aufrecht hinstellen.
„Was ist?“, hörte er Klaus rufen. Seine Stimme
klang seltsam gedämpft.
„Alles klar“, rief er zurück, „Du kannst kommen!“
Es dauerte nicht lang, da hörte er Klaus den Gang
entlang rutschen, und wenig später stand er neben
ihm. Im Gegensatz zu Rolf musste Klaus noch
immer etwas den Kopf einziehen.
Sie schlichen weiter. Es war faszinierend, aber
auch zum Fürchten. Der Boden war feucht und
etwas rutschig. Offenbar ging es bergab. Es roch
modrig nach feuchter Erde. Verrottete Balken
stützten die Seitenwände und die Decke. Der
Gang war aber auch teilweise gemauert. Mit ängst-
lichem Gefühl betrachtete Rolf die schweren Stei-
ne über ihren Köpfen. Nicht sehr vertrauenerwe-
ckend, dachte er.
Das Blut rauschte durch seine Adern. So etwas
hatte er noch nie erlebt. Was für ein Abenteuer!
Was würde er erzählen können!
Was würde Ute sagen, überlegte Rolf voller Vor-
freude und Stolz, und dann sah er Klaus vor sich,
und sein Hochgefühl verwandelte sich in tiefste
Bitternis.
Sie wollten schon umkehren, als das Licht der Ta-
schenlampe plötzlich von einem metallischen Ge-
genstand reflektiert wurde.
„Das ist bestimmt eine Ritterrüstung!“, jubelte
Klaus. „Und…“, er drehte sich zu Rolf um, „viel-
leicht ist sogar noch der Ritter drin…“ Dabei lachte
er hämisch.
Rolf ging langsam hinter ihm her.
Dann sahen sie das metallische Teil. Es war ein
verrostetes Schwert, das bis zum Griff in der Erde
steckte. Klaus zog es heraus. Die Klinge war in der
Mitte zerbrochen, aber immerhin, es war ein
Schwert!
Klaus fuchtelte damit herum.
„Wow“, grinste Klaus, „was wird bloß mein Ritter-
fräulein sagen?“
Dann sah er Rolf direkt an.
„Wird es seinen Schleier oder vielleicht sogar das
Höschen fallen lassen? Was meinst Du?“
„Ich habe den Tunnel entdeckt, nicht Du“, entgeg-
nete Rolf lahm.
„Dafür werde ich aber noch ganz andere Dinge
entdecken… bei Deiner geliebten Ute…!“ Und er
zeigte mit dem Schwert auf Rolf.
Rolf war kurz davor, die Fassung zu verlieren und
sich auf ihn zu stürzen. Er fühlte sich unsäglich
gedemütigt und hilflos.
„Du…“, stieß er hervor, „Du bist viel zu blöd für sie!
Amontillado ist ein Wein, und Wein ist viel besser
als Bier!“
Er merkte selbst, wie albern das klang, und er
wandte sich um und blind vor Zorn und Tränen
rannte er den finsteren Gang zurück, hinter sich
den wütenden Klaus: „Bleib stehen, Du Pisser!“
Plötzlich ertönte in seinem Rücken ein lautes Kra-
chen, und er stoppte abrupt. Durch eine Staubwol-
ke zitterte der Lichtfinger einer Lampe. Von Klaus
war nichts zu sehen. Rolf ging langsam und vor-
sichtig zurück.
Klaus lag auf dem Boden. Seine Beine waren von
schweren Quadern bedeckt, die offenbar aus der
Decke gefallen waren. Die Beine waren seltsam
verkrümmt und offensichtlich gebrochen. Klaus
hatte immer noch das Schwert in der Hand und
keuchte vor Schmerzen. In der anderen Hand hielt
er die Taschenlampe, die hin und her schwankte.
Rolf ahnte, was passiert war. Klaus war schwert-
schwingend hinter ihm her gestürzt und mit einem
seiner Hiebe durch die Luft hatte er einen der
schweren, aber lockeren Steine aus der Decke
geschlagen, was eine Kettenreaktion ausgelöst
hatte.
Klaus brüllte: „Du musst mir helfen, nimm die Stei-
ne weg!“
Rolf bückte sich, aber die mächtigen Quader wa-
ren zu schwer, und es waren zu viele.
„Ich kann nicht“, keuchte er.
„Was kannst Du überhaupt?“, brüllte Klaus.
Er drückte Rolf die Lampe in die Hand und warf
das Schwert zur Seite. Dann versuchte er selbst,
die Steine wegzuschieben. Mit einem lauten Auf-
schrei sank er wieder zurück. Er schwitzte und litt
offenbar starke Schmerzen.
„Dann hol Hilfe“, presste Klaus hervor. „Los, beeil
Dich!“
Rolf drehte sich um und rannte los.
Klaus schrie hinter ihm her – voller Schmerzen und
voller Wut: „Du verdammter Loser! Mach hin!“
Schließlich kam Rolf wieder zu dem schmalen
Tunnel und zwängte sich mühsam hindurch. Keu-
chend erreichte er auf der anderen Seite den klei-
nen Raum an der Mauer. Er lauschte zurück in den
Gang, hörte aber nur noch dumpf und ganz ent-
fernt Klaus‘ Stimme, er spürte, dass sie ärgerlich
und wütend klang, aber er konnte nicht mehr ver-
stehen, was Klaus rief. Bestimmt etwas wie Loser
oder etwas Anzügliches über Ute, dachte er.
Er ließ sich Zeit, als er durch die Öffnung in der
Mauer kletterte. Sie waren offenbar länger im Tun-
nel geblieben, als er gedacht hatte. Die Sonne war
untergegangen, und nur der Mond beleuchtete die
Ruine. Rolf nahm einen tiefen Atemzug. Dann ging
er vor bis zur äußeren Burgmauer und schaute
über das mondbeschienene Land. Auf der anderen
Seite des Tals erhob sich als mächtiger Schatten
vor dem Nachthimmel der Vetzberg. Rolf hatte
kein Gefühl dafür, wie weit sie ihm unter der Erde
entgegengekommen waren.
Er atmete noch einmal tief ein. Die weite, hügelige
Landschaft mit den beiden Ruinen strahlte in ihrer
dunklen Ruhe ein Gefühl von Ewigkeit aus. Sie
hatte schon lange vor ihm existiert und würde ihn
auch überdauern.
Mit einem melancholischen Seufzer ging er zu der
offenen Mauer zurück. Im Mondlicht glänzte hell
die Holzkiste der Maurer…
„Nemo me impune lacessit…“, murmelte er.
„Wie bitte? Was haben sie gesagt?“, hörte Dr. Rolf
Schmidt seine Sekretärin durch die Leitung.
„Äh, nichts… ähm. Sagen Sie Frau Berger, es hat
keinen Sinn, dass sie mich weiter anruft. An der
Entscheidung wird sich nichts ändern. Die Mauer
bleibt, wie sie ist. Einen Tunnel gibt es nicht.“
Dann legte er den Hörer auf, ohne eine Erwide-
rung abzuwarten. Er stand auf und stellte sich ans
Fenster seines Büros. Er legte den Kopf in den
Nacken und starrte in die Sonne, die ihn blendete,
aber er wandte den Blick nicht ab. Als er die Lider
schloss, sah er wieder die Silhouette auf der Mauer.
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