Herumtreiberinnen

Junge Frauen wurden weggesperrt

von Jörg-Peter Schmidt

Viel zu spät aufgearbeitet wurde der Terror,  mit dem in staatlichen, privaten oder kirchlichen Heimen bzw.  sogenannten Kliniken Menschen seelisch und körperlich gequält wurden. Dazu gehören die Venerologischen Stationen, von denen Bettina Wilpert in ihrem Roman „Herumtreiberinnen“ berichtet. Aus dem aufwühlenden Buch las die in Leipzig lebende Autorin kürzlich im Kulturzentrum „Prototyp“ in Gießen. Moderatorin war Diana Hitzke.

Demütigung in Venerologischer Station

Im Gespräch vor der Lesung: Moderatorin Diana Hitzke (links) und die Autorin.

Ein Schwerpunkt in der im Verbrecher-Verlag erschienenen Erzählung auf der Basis von tatsächlichem historischem Geschehen sind die schlimmen Vorkommnisse in einer Venerologischen Station in Leipzig in der Lerchenstraße. Dort wird im Roman die 17-jährige Manja 1983 weggesperrt, weil sie nicht „angepasst“ lebt und auch mit einem Mann „erwischt“ worden ist.

In den im Volksmund genannten „Tripperburgen  sollten junge Mädchen bzw. Frauen ab dem zwölften Lebensjahr von möglichen Geschlechtskrankheiten  befreit werden. Die Insassinnen wurden dort auch  – oft für längere Zeit –inhaftiert, auch wenn bei ihnen keine Geschlechtskrankheit festgestellt wurde: Es ging in DDR darum, Außenseiterinnen, Andersdenkende, von der Norm abweichende junge Frauen zu isolieren, physisch und  psychisch zu demütigen (Venerologische Stationen gab es im Übrigen auch in der Bundesrepublik Deutschland).

Mädchen ab zwölf Jahren wurden isoliert

Nicht selten brachten Eltern ihre „Herumtreiberinnen“ in diese Anstalten. Es zerreißt einem förmlich das Herz, als man in dem Roman auf den Seiten 137 und 138 liest, wie eine Mutter mit ihrer Tochter das Gebäude in der Lerchenstraße betritt: 

„Das Mädchen war vielleicht 12 oder 13 Jahre alt. Die Mutter sagte, sie würde sich herumtreiben… Das Mädchen weinte, ihre Schluchzer wurden immer lauter, jämmerlicher. Sie wiederholte immer wieder diesen einen Satz: Ich hatte noch gar keinen Mann.   Ich hatte noch gar keinen Mann.  Die Mutter ging, die Tochter blieb.“

Bettina Wilpert beschreibt noch weitere Szenen der Demütigung als Beispiel dieser Einrichtungen, die es im Übrigen (auch wenn es weniger Fälle waren) für Männer gab.

Die Autorin, deren Debüt „Nichts was uns passiert“ in der Studiobühne des Stadttheaters Gießen als Uraufführung zu sehen war, beschränkt sich in „Herumtreiberinnen“ nicht nur auf die Vorgänge der  „Tripperburg“.  In dem Haus in der Lerchenstraße in Leipzig gab es noch weiteres historisches Geschehen:  Bereits in der Zeit des Nationalsozialismus wurden dort Menschen, die sich nicht eingliederten, untergebracht. Das bekommt auch Lilo zu spüren,  die ihren kommunistischen Vater unterstützt.

Und es gab noch eine weitere Funktion in dem besagten Komplex. Moderation  Diana Hitzke erwähnte richtigerweise, dass in dem Roman nicht nur Menschen, sondern auch ein Gebäude im Mittelpunkt steht: 2015 wurden in dem Haus Flüchtlinge untergebracht. Auch diese Epoche der Zeitgeschichte dient der mit dem ZDF-„aspekte“-Literaturpreis ausgezeichneten Schriftstellerin  als Hintergrund für ihre sehr bewegende Geschichte, die  auch die Zuhörerinnen und Zuhörer im gut besuchten „Prototyp“ in den Bann zog. Apropos „Prototyp“: Dieses mit nostalgischen Sesseln eingerichtete Kulturzentrum ist bestens geeignet auch für Lesungen des LZG.  

Der Roman ist im Verbrecher-Verlag (Berlin) erschienen , kostet 25 Euro und es gibt ihn auch in einer Hörfassung. 

Titelbild: Bettina Wilpert beim Signieren ihres Romans. (Fotos: Jörg-Peter Schmidt)

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