Süffeln am Samstag

Ein Brauch weitet sich aus

Nissens Woche – die zehnte

Klaus

Wir sollten nicht immer nur unken – es geht auch voran! Und mit ein wenig Alkohol werden sogar die Deutschen ein wenig lockerer.

 

Süffeln am Samstag

Kennen Sie den Effekt? Sie überlegen am Wochenende, was Sie in den nächsten Tagen alles unbedingt erledigen müssen. Und wenn Sie fest dazu entschlossen sind, gelingt am Montag eine ganze Menge. So viel, dass Sie am Montagabend richtig zufrieden sind. Und vor lauter Selbstzufriedenheit vergessen Sie den Dienstag und Mittwoch. Anderes kommt dazwischen – und alles, was noch unbedingt erledigt werden muss, bleibt liegen. Seltsamerweise geht die Welt trotzdem nicht unter. Die Experten nennen das Prokrastination. Ich weiß das, denn ich bin auf diesem Feld Experte.

Es geht hier gar nicht um Gemüse! Der Seligenstädter Wochenmarkt hat ein klar erkennbares Zentrum: den Riesling-Ausschank. Foto: Klaus Nissen

Zum Ende der Woche kam ich schließlich doch zum wirklich Wesentlichen: viel Bewegung in frischer Luft. Wir fuhren am Samstag nach Seligenstadt, um den Limesweg bis Stockstadt zu testen. Die Sonne flutete zum ersten Mal seit Ewigkeiten den Marktplatz. Die Seligenstädter flanierten zwischen den Gemüseständen, begutachteten Karotten und kauten auf zähen Bratwurst-Semmeln herum. Um einen Stand ballten sich dunkel gekleidete Menschenmassen. Durch eine Lücke konnte ich erspähen, was da feilgeboten wurde – Weißwein und Prosecco aus Rheinhessen, zum sofortigen Verzehr bestimmt. Fröhliches Gemurmel klang aus dem Inneren der Menschenmenge, immer wieder auch ein Klirren. Aha! Es breitet sich aus! Vor zwei Sommern schon habe ich auf dem Mainzer Wochenmarkt die Keimzelle des neuen Brauchs erlebt. Auch bei bedecktem Himmel, sogar im Regen drängt sich da das etwas besser verdienende Volk unter den Schirmen und konsumiert Riesling aus großen Gläsern. Er bewirkt eine gehobene Heiterkeit und Kontaktpflege. Bei gutem Wetter artet das im Schatten des Mainzer Domes geradezu in Massenbesäufnisse aus! Das einfache Volk schaut staunend zu und vergisst dabei sogar, den letzten Bratwurstzipfel zu verschlucken. Es steht eher auf Bier.

Der Rosé war gar nicht übel

Ich gestehe, selbst einmal den neuen Brauch getestet zu haben, obschon ich nicht zu den Besserverdienenden gehöre. An einem frühen Freitagabend in Frankfurt wunderte mich das laute Kichern und Schwatzen auf der Hochterrasse hinter der Kleinmarkthalle. Es war kalt und regnete Bindfäden – trotzdem trank die dicht an dicht stehende Menge bei bester Laune die gesamten Bestände eines Weinguts weg. Der Rosé war gar nicht übel. Am Stehtisch lernte ich eine Menge Leute kennen und war froh, dass später die S-Bahn mich heimfuhr und nicht der eigene Wagen. Geht doch! Die Deutschen sind gar nicht so verkniffen, wie sie immer wirken. Ein bisschen Alkohol, und es flutscht.

In diesem Sinne rufe ich dem Magistrat der Stadt Friedberg zu: Nutzt die Chance! Traut Euch! Nach dreißigjähriger, verbissener Diskussion ist es den Friedbergern gelungen, die Autos vom Elvis Presley-Platz in der Stadtmitte zu verbannen. Für ein paar hunderttausend Euro wurde der Platz nun dermaßen öde zugepflastert, dass man sich die Autos zurück wünscht. Kein Passant traut sich, das Vakuum zu durchqueren. Der Samstags-Markt findet immer noch auf dem viel zu schmalen Bürgersteig der Kaiserstraße statt. Traut Euch! Schickt die Händler auf den Platz! Und ladet Winzer ein!

Wir sind am Samstag noch nach Stockstadt gewandert und fuhren mit dem Zug zurück. Beim Umsteigen in Babenhausen starrte ein Zehnjähriger vom Bahnsteig gegenüber auf unseren Zug. Dann rief er: „Boa! Guck mal! Da ist ja eine Frau im Führerstand!“ So viel zum Internationalen Frauentag. Es geht voran.

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