NS-Terror

Zum Beispiel Seligenstadt

Sie hießen Bacharach, Kleeblatt, Lilie oder Grünbaum und waren alle alteingesessene Seligenstädter Familien. Das Buch „Stolpersteine in Seligenstadt“ zeigt, wie diese Familien seit 1933 von den Nazis drangsaliert, gequält, vertrieben und vernichtet wurden.

96 Stolpersteine

In dem malerisch an einer Schleife des Mains gelegenen Städtchen mit seiner mächtigen Basilika und den vielen Fachwerkhäusern lebten 1933 146 Juden unter 5816 Einwohnern. Im September 1942 wurden die letzten 43 deportiert. 96 Stolpersteine wurden bis Ende 2018 von dem Künstler Gunter Demnig in Seligenstadt verlegt, um an die Opfer der NS-Diktatur zu erinnern. Das Buch „Stolperstein in Seligenstadt“ ist ein Rundgang zu den Häusern, in denen Juden lebten, zum Synagogenplatz und zum jüdischen Friedhof. Wer möchte, kann mit dem Buch in der Hand durch Seligenstadt laufen. Es funktioniert aber auch ohne Rundgang: als Erinnerung an Menschen, die Teil der Seligenstädter Gesellschaft und Geschichte waren und Opfer systematisch geschürten Neides und Hasses wurden.

Die drei Autoren des Buches Thorwald Ritter, Hildegard Haas und Dietrich Fichtner haben die Geschichte der Seligenstädter Juden während der Nazi-Diktatur akribisch recherchiert. In sachlichen Ton erzählen sie, zum Beispiel, was der Familie Bacharach geschah: „Von der großen Familie Bacharach wohnte 1935 nur noch der Sohn Julius in Seligenstadt. Mit ihm zog im Mai 1940 der letzte der Familie weg. Er wurde im Frühjahr 1942 von Frankfurt a. M. Aus deportiert und am 25. Juli 1942 in Lublin-Majdanek ermordet. Der Bruder Ludwig und seine Ehefrau Guda lebten zunächst in Egelsbach und seit 1938 in Frankfurt a.M.. Im Zusammenhang mit dem November-Pogrom wurde Ludwig in das KZ Buchenwald verschleppt, aus dem er am 21. Dezember 1938 entlassen wurde. Die Familie emigrierte nach Frankreich, wo Ludwig im April 1940 verstarb.“

Die jüdischen Religionsschüler 1930. (Alle Bilder aus „Stolpersteine in Seligenstadt)

Oder die Familie Bender: „Benedikt Bender war wohlhabend und hoch angesehen. Er war Mäzen der jüdischen Gemeinde Seligenstadt und gehörte auch deren Vorstand an. Nach seiner Deportation 1942 war er bis 1943 im Ghetto Theresienstadt, von wo aus er regelmäßig seinem Neffen Paul Stern in der Schweiz schrieb. Ab 1943 gab es kein Lebenszeichen mehr von ihm. (…) Juli Bande war verheiratet mit Rudolf Stern. Er war wegen seiner Größe im Garderegiment und wurde im Ersten Weltkrieg mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnet. Mit seiner Frau Julia wurde er von Frankfurt a.M. aus am 15. September 1942 nach Theresienstadt deportiert. Mit dem letzten von Theresienstadt am 28. Oktober 1944 abgegangenen Transport nach Auschwitz könnten sie zu den letzten Opfern der Gaskammern gehören, die bald darauf niedergerissen wurden. Ihr einziges Kind Max konnte in die USA emigrieren.“

Die Schändung des Gotteshauses

Die jüdische Gemeinde Seligenstadt hatte eine stattliche Synagoge, ein repräsentatives Gebäude aus rotem Sandstein im neoromanischen Stil mit maurischen Stilelementen errichtet, mit viereckigen Türmchen an den vier Ecken, die Zwiebel- oder Turmhauben trugen und vergoldete Kuppelköpfchen. Wie die meisten in Deutschland wurde auch die Seligenstädter Synagoge um November 1938 zerstört: „In Seligenstadt rückten am Vormittag des 10. November Parteiangehörige der Justizverwaltung an, bewaffnet mit groben Werkzeugen, schlugen die Tür ein, gossen Benzin in der Innere und steckten die Synagoge in Brand. Verantwortlich dafür war die Standarte 168 der SA-Brigade Starkenburg.“ Das Gotteshaus wurde abgerissen, die Steine wurden verkauft. Erst 1988 wurde an der Stelle der Synagoge ein Obelisk als Mahnmal aufgestellt. Er trägt die Inschrift: „Die Bürger der Stadt Seligenstadt gedenken ihrer jüdischen Mitbürger, welche durch die Nationalsozialistische Gewaltherrschaft in den Jahren 1933-1945 ermordet oder in den Tod getrieben wurden.“ Auch der jüdische Friedhof wurde zu einem Mahnmal gestaltet. Die Nazis hatten ihn dem Ortslandwirt als Pferdeweide überlassen und der hatte fleißig Grabsteine abtransportiert. Beim Abriss des Hauses Einhardstraße 35, in dem der Landwirt gewohnt hatte, wurde viele Grabsteinbruchstücke gefunden. Weil sie nicht mehr zusammengefügt werden konnten, gestaltete der Steinbildhauer Christoph Schindler aus den 350 Fragmenten eine kreisförmige Mauer als Denkmal.

Am Ende des Buches wir auch an die Euthanasieopfer aus Seligenstadt erinnert. „Behinderte und psychisch Kranke passten nicht in die Rassenideologie der Nationalsozialisten. Die ‚arische Rasse‘ sollte rein und gesund sein. Die Idee der überlegenen Rasse und des gesunden Volkskörpers sollte mit Zwangssterilisationen und der Tötung sogenannter lebensunwerter Menschen verwirklicht werden“, schreiben die Autoren und fassen dann zusammen: „Soweit aus den noch vorhandenen Dokumenten der Gedenkstätte Hadamar ersichtlich, wurden sechs Menschen, die vor ihrer Heimeinweisung in Seligenstadt wohnten, bei der Mordaktion T 4 in Hadamar ermordet. Dabei handelt es sich um eine Mindestzahl, da bei vielen Opfern der Geburtsport und der letzte Wohnort nicht bekannt sind.“

„Stolpersteine in Seligenstadt. Rundgang zu Wohnhäusern, Synagogenplatz und jüdischem Friedhof“, Brandes & Apsel Verlag, 196 Seiten, Paperback, Format 15,5, x 23,5 cm, 19,90 Euro, ISBN 978-3-95558-254-8

Ein Gedanke zu „NS-Terror“

  1. Nicht nur diese Verbrechen müssen beweint werden. Am 10. Juni 1944, also vor genau 75 Jahren, geschahen die Massaker von Oradour in Frankreich und von Distomo in Griechenland. Soldaten der Nazi-Wehrmacht zerstörten Oradour und schlachteten 642 Einwohner ab. In Distomo mussten 218 Einwohner sterben. In beiden Fällen waren das vor allem Frauen, Kinder und Alte. Nie wieder darf es so viel Unmenschlichkeit geben. Nie wieder sollten Kriege stattfinden, die Menschen in solche Entgleisungen treiben, weder in Europa noch anderswo auf der Welt. Deshalb müssen die Ausgaben für den Militärhaushalt nicht erhöht, sondern gesenkt werden, bis sie eines Tages weltweit auf Null sind. Berlin sollte sich den Wünschen der Nato nach weiteren Milliarden verweigern. Jemand muss schließlich anfangen.
    Ursula Wöll

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