Menschlichkeit

In Riace sind Flüchtlinge willkommen

von Ursula Wöll

In Wettenberg wurde das Projekt „Italienische Kontraste – Jenseits von Lampedusa“ gestartet. Neben Bildern und Objekten der KünstlerInnen des Kunst- und Kulturvereins Wettenberg (KuKuK) und Venezianischen Masken von  SchülerInnen ist bis 18. November 2018 auch eine Wanderausstellung aus Berlin zu sehen, erstellt von der Gruppe „Topographien der Menschlichkeit“ über das italienische Dorf Riace, in dem Flüchtling willkommen sind (Foto: Di Marcuscalabresus/Wikipedia) . Landbote-Autorin Ursula Wöll hat sich das Projekt in Wettenberg angeschaut und ist ganz angetan:

Ein Hort gelebter Humanität

„Riace, tu mi piace“, so summe ich vergnügt auf dem Heimweg. Ich komme von einer Ausstellungseröffnung im Wissmarer KukuK. Der Kunst- und Kulturverein Wettenberg eV hat sich diesmal mit der Deutsch-Italienischen Gesellschaft Mittelhessen eV und der Gesamtschule Gleiberger Land zusammengetan, um ein wunderbares kulturpolitisches Projekt zu realisieren. Dessen Titel: „Italienische Kontraste – Jenseits von Lampedusa“. Neben den Bildern und Objekten der KuKuK-KünstlerInnen und den Venezianischen Masken der SchülerInnen ist eine Wanderausstellung aus Berlin zu sehen, erstellt von der Gruppe „Topographien der Menschlichkeit“. Sie feiert das kalabrische Riace als ein Hort gelebter Humanität. Denn dort werden Flüchtlinge zu Gästen und beispielhaft in den Alltag des Ortes integriert. Eine win-win-Geschichte, sowohl für die Einheimischen als auch die übers Mittelmeer Geflüchteten.

Willkommen in Kalabrien

Meist informieren uns die Medien über negative Geschehnisse, Krieg, Gewalt, Rassismus und andere Übel. „Topographien der Menschlichkeit“ will zeigen, dass die Humanität nicht ausgestorben ist und dass es nach wie vor Menschen und Gruppen gibt, die an die Geschwisterlichkeit aller Menschen glauben und auch danach handeln. So in etwa formuliert es Anna Tüne im großartigen Begleitbuch zur Wanderausstellung „Jenseits von Lampedusa – willkommen in Kalabrien“. Es tut richtig gut, von der Humanität der Einwohner von Riace und des Nachbarortes Badolato zu erfahren, Deshalb konzentriere ich mich auf die Wanderausstellung in der Mitte der Kunsthalle und erwähne lediglich die einfallsreichen Künstlerarbeiten und Masken, die an den Wänden rundum hängen. Lange stand ich etwa vor einem Triptychon, das dreimal nur das Meer zeigt, sonst nichts.  Es lässt viele Assoziationen zu, schöne und schreckliche.

Warum und wie sich alles entwickelte

Seit Jahrzehnten emigrieren die Bewohner von Riace und seiner armen Region, nicht nur nach Norditalien und Deutschland, sondern auch übers Meer nach Argentinien. Die Einwohnerzahl schrumpfte kontinuierlich, Häuser standen leer, und die Schule drohte zu schließen. Der Bürgermeister Domenico Lucano hebt hervor, dass sich deshalb die Leute in die ankommenden Flüchtlinge gut hineinversetzen können: „Jeder von uns hat einen Verwandten, der den Ort verlassen musste und weiß, was es bedeutet, wenn man seine Heimat verliert  und dass man sich sein ganzes Leben lang danach sehnt.“  Lucano war es, der die Gastfreundschaft der BürgerInnen anfeuerte und organisierte. Als vor Jahren ein Schiff mit Hunderten von KurdInnen vor Badolato strandete, entwickelte sich dort bereits eine Willkommenskultur. ‚Mimmo‘ Lucano übernahm sie für Riace und verfeinerte sie. Durch die 400 überwiegend afrikanischen Gäste stieg die Einwohnerzahl in Riace von 1400 auf heute 1800. Leerstehende Häuser wurden renoviert, die Schule blieb geöffnet, etliche Arbeitsplätze, etwa durch neue Cafés entstanden, Freundschaften entwickelten sich, der Fußball rollte wieder auf dem Sportplatz, und der Tourismus kam auf Touren. Eine win-win-Situation also für beide Seiten, zumal der Staat eine kleine Summe pro Flüchtling zuschoss. Dreimal wurde Lucano als Bürgermeister wiedergewählt. Alle nennen ihn Mimmo, eine Koseform von Domenico.

Oft ist die intensive Betreuung natürlich stressig für die BürgerInnen, die sich engagieren. Übersetzen, zum Arzt begleiten, Sprachunterricht geben oder Formulare erklären, das strengt an. Meist sind die HelferInnen Frauen, wie etwa die 48jährige Cosimina Alfarano: „Wenn es mal stressig wird, denke ich immer an die Mütter, die nicht wissen, ob ihre Kinder die Flucht überlebt haben. Das muss fürchterlich sein. Ich versuche dann, ihnen ein wenig von der Liebe zu geben, die sie von ihrer Mutter bekommen haben. Dies ist das mindeste, was ich tun kann.“

Modell Riace in Gefahr

Die neue Regierung in Rom, genauer Innenminister Salvani, scheint zu fürchten, dass das Riace-Modell des Willkommens von Flüchlingen Schule macht. Schon ist es weit über Kalabrien hinaus bekannt, sogar Wim Wenders drehte einen Film darüber. Unter schadenfädigen Gründen enthob Salvani vor kurzem den Bürgermeister Lucano seines Amtes, ordnete zuerst Hausarrest an und verbannte ihn dann aus dem Ort. So ist ungewiss, ob das Projekt, das in jedem Flüchtling den Menschen sieht, ohne seinen Spiritus Rector noch lange weiterläuft, zumal nun auch die staatlichen Zuschüsse gestrichen wurden.

Die Ausstellung im KuKuK Wettenberg-Wissmar, Goethestr. 4b, läuft bis 18. November, geöffnet Sa + So 15 bis 18 Uhr. An 7 Terminen finden Begleitveranstaltungen statt. Infos unter kukuk-wettenberg.de   und   Tel.0641-870159

topographiendermenschlichkeit.de/kalabrien

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