Wir leben in der Diktatur

Marianne Gronemeyer über Konsumfallen

Von Klaus Nissen

Wie leben wir eigentlich? Miserabel, sagt Marianne Gronemeyer. Fast jeder habe sich dem Konsumismus unterworfen. Wir schuften, um zu konsumieren. Wir lassen uns beherrschen und manipulieren. Weil wirklich alles um uns herum vermarktet wird, leben wir in einem totalitären System. Wie kommt man da heraus? Beim Vortrag der Autorin in der Friedberger Fachhochschule gab es ein paar Antworten.

Wir leben in der Diktatur

Auf den ersten Blick wirkt die freundliche ältere Dame überhaupt nicht radikal.  Marianne Gronemeyer ist seit zehn Jahren emeritierte Professorin. Sie war Lehrerin, später Professorin für Erziehungswissenschaften an der Wiesbadener Fachhochschule. Nach einem reichen Leben könnte sie freundliche Gelassenheit pflegen – aber sie hat einen heiligen Zorn. Sie sitzt in einem Hörsaal der Technischen Hochschule Mittelhessen vor gut 80 Zuhörern und sagt. „Ich empöre mich über jede Tür, die sich von Geisterhand vor mir öffnet und die mich buchstäblich in den Laden hineinlutscht.“ Überall stehen Konsumtempel im Weg, so Gronemeyer. Wir sind es gewohnt, unter Konsumpflicht zu stehen. So sehr, dass wir es gar nicht mehr bewusst wahrnehmen.

Wir müssen hart arbeiten,  damit wir konsumieren können. Obwohl der Arbeitsmarkt, in dem wir uns täglich bewegen, ein Kriegsschauplatz ist.  Mindestens acht Stunden am Tag produzieren wir, damit wir konsumieren können. Dafür leisten wir auch Schattenarbeit, die uns eigentlich nur die Zeit stiehlt: Wir pendeln zur Arbeit, transportieren unsere Kinder in die Kitas und Schulen,  sitzen in den Wartezimmern der Ärzte, die uns wieder fit machen müssen, stehen Schlange vor dem Geldautomaten und pflegen unsere Autos.

Nur wer konsumiert, ist ein loyaler Erdenbürger. Wir sind gleichgeschaltet, behauptet die emeritierte Professorin. Wir sollen zugleich kräftig sparen und kräftig konsumieren. ‚Wir bauen Maschinen, die uns überflüssig machen. Wir messen uns alle an unserer Konsumkraft. Auch die Habenichtse müssen sich daran messen lassen. Doch wie reich wir auch werden – die Konzerne reden uns immer neue Bedürfnisse ein, „denn wer bedürftig ist, ist beherrschbar.“ Auch in armen Ländern regiert der Konsumismus, sagt Marinanne Gronemeyer. In fast jedem Dorf der Welt lassen sich die Menschen einreden, dass Coca Cola  besser schmeckt als das selbst gebraute Hirsebier.

Der Neid als Triebfeder schädlichen Begehrens

„Wir begehren sogar Dinge, die uns wirklich schaden“, proklamiert die vielfache Buchautorin, die Ivan Illich, Erich Fromm und Robert Jungk noch persönlich gekannt hat. Ihre Nähe zu den Achtundsechzigern ist unverkennbar. Lange ist das her. Aber sind sämtliche Ansichten dieser Leute deshalb verjährt und unsinnig? Gronemeyer blickt das Publikum ernst an und behauptet: Neben den Konzernen, die am totalitären Konsumismus verdienen, sei der Neid die mächtigste Triebfeder des schädlichen Begehrens. Unsere kurzzeitige Befriedigung resultiere nicht aus den Waren und Dienstleistungen, die wir konsumieren, sondern aus dem neidvollen Blick derer, die sie sich nicht leisten können.

Als Nebeneffekt dieses Konsumismus ist uns laut Gronemeyer der Eigenwille ebenso verloren gegangen wie die Fürsorge um Menschen in unserer Nähe. Die musste im Konsumismus zur bezahlten Dienstleistung werden. Statt der Fürsorge praktizieren wir Vorsorge: Wir hamstern Geld und schließen Versicherungsverträge ab. Dabei werden wir die Sorge niemals los, ob wir nicht doch unsere Gesundheit, unsere Zukunft, unser Leben verlieren.

Brave Konsumenten hören zu

Das Publikum schaut betroffen von den Rängen herab. Es hat die Empörung dieser netten älteren Dame so nicht erwartet.  Man engagiert sich ja gegen gegen das System. Die Veranstalter des Vortrages betreiben in Friedberg einen Umsonstladen, in dem arme Menschen kostenlos gespendete Haushaltsgegenstände abholen können. Ein Verstoß gegen die Gesetze des Konsumismus. Doch selbst  diese engagierten jungen und älteren Menschen tragen schöne neue Kleidung und in ihren Taschen hochwertige Smartphones.  Während des Vortrages erkennen sie, dass sie im Grunde brave Konsumenten sind. Und nicht eigensinnig genug. „Wir sind zutiefst geschädigt“, sagt die Professorin, und niemand widerspricht.

Rewe-Supermarkt, fotografiert von Ralf Roletschek. Das Foto von Marianne Gronemeyer im Vorspann stammt von Andreas Arnold.

Was also tun? „Wo ist die Gurgel des Monstrums““ fragt ein Zuhörer. „Wir brauchen Gegenbeispiele, wie wir selbstbestimmter leben können.“ Man fühlt sich betroffen, weil man erkannt hat, dass der Konsumismus die ganze Welt bald zugrunde richten wird. Und weil man viel mehr dagegen unternehmen müsste. Ein junger Mann sagt: „Wir sind nun mal diesem weltweiten Wettbewerb ausgesetzt. Uns bleibt nichts übrig, als selber rücksichtslos zu sein.“  Ein anderer findet, wir müssten weniger und bewusster konsumieren, nachhaltige Produkte kaufen. Und kein Fleisch essen.

Da spottet die Professorin: „Auch die vegane Kultur hat einen Markt. Sie gehört zum System, und das hat einen Riesen-Appetit. Wir können uns nicht davor verstecken.“ Die alte Dame mit  der gelb-grauen Wolljacke bietet keine leichte Lösung.  Keiner im Saal und darüber hinaus könne die Welt retten. Müsse man auch nicht.  „Den Druck der Verantwortung lassen wir uns jeden Abend medial zuweisen.“ Das bringe nur Sorgen.

Kühlschrank macht Urlaub

Nein.  Die Welt werde nicht besser. Aber wir können anfangen, eigene Erfahrungen zu machen. Anfangen, in die vom Konsumismus erbittert bekämpfte Subsistenz zu gehen.  Zum Beispiel  Gemüse im eigenen Vorgarten anzubauen. Oder für den Winter einen Pullover zu stricken, den man nicht gleich wieder wegwirft. „Es geht darum, Erfahrungen zu machen“, sagt Marianne Gronemeyer. Es werde uns nicht retten. Es  gebe aber Befriedigung, wenn man sagt: Es ist genug.

Andreas Arnold liefert am Rande des Vortrages ein Beispiel, wie er dem Konsumismus ein Schnippchen schlägt. Der Poetry-Slammer aus Friedberg hat im November seinen Fernseher verschenkt und lebt seitdem ohne. Und weil es draußen gerade kalt ist, lagert er seine Lebensmittel auf dem Balkon – der Kühlschrank macht Urlaub. Über diese und weitere Erfahrungen berichtet er in seinem Online-Tagebuch

plastic-diary.blogspot.de

Wer mehr über den Friedberger Umsonstladen wissen will, findet Informationen hier: umsonstladen-friedberg.de

Und wer weitere radikale Thesen von Marianne Gronemeyer hören will, muss nach Wien fahren: Am 7. Februar 2017 ab 19.30 Uhr spricht sie in den Räumen des „Aktionsradius Wien“  über „Die Diktatur des Effizienzdenkens“.

2 Gedanken zu „Wir leben in der Diktatur“

  1. „Ich empöre mich über jede Tür, die sich von Geisterhand vor mir öffnet und die mich buchstäblich in den Laden hineinlutscht.“ Bisher fand ich die automatischen Türen hilfreich, jetzt werde ich sie genauer beobachten.
    Der Inhalt der Vortrags von Frau Gronemeyer schärft sicher das Bewußtsein und regt an.
    Es gibt Beispiele in meinem Bekanntenkreis, z.B. eine Schriftstellerin die nur halbtags arbeitet, um die restliche Zeit zum Schreiben zu nutzen. Entsprechend schränkt sie ihren Konsum ein und lebt vergnüglich.
    Als alter 68er stört mich aber der Begriff „Diktatur“ in diesem Zusammenhang. Dies ist weit übertrieben, ich werde nicht verhaftet, wenn ich nicht konsumiere oder meine Meinung dazu sage.

    1. Es geht um „strukturelle Gewalt“, dazu ist es nicht nötig, verhaftet zu werden. Wenn ich nicht konsumiere und das auch noch öffentlich vertrete, werde ich (zumindest) benachteiligt. Es reicht den Diktatoren aus, mein Verhalten als „schädlich für die Gesellschaft“, oder schlimmer, als „verantwortungslos“ darzustellen… Die armen Braunkohle-Bergleute verlieren ihren Arbeitsplatz – und ich bin schuld.

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