Hessenpark

Bilderreise mit Zügen, die es nicht mehr gibt

Von Corinna Willführ

Für Reisende, die im Tanzabteil vom Vogelsberg an die Mosel fuhren, war die Reise ein Vergnügen. Für Pendler, die von Lauterbach nach Frankfurt mussten, war die mehrstündige Fahrt eine Tortur. Für Ernst Bäppler und Wilfried Kohlmeier ist die 1975 stillgelegte Vogelsbergbahn ein Faszinosum. Ihre Leidenschaft für die Eisenbahn und die Fotografie haben sie in tausenden Bildern festgehalten. Eine Auswahl zeigt die Sonderausstellung „Die Vogelsbergbahn zwischen Lauterbach und Stockheim – eine Fotodokumentation von 1940 bis 1975“ im Freilichtmuseum Hessenpark.

Leidenschaft für die Eisenbahn

Der Frühzug von Lauterbach. Um 5.15 Uhr setzte er sich in dem Vogelsbergstädtchen in Bewegung. Ankunft im Frankfurter Hauptbahnhof 8.52 Uhr. Für die Rückfahrt mit Aufenthalt in Stockheim musste man mit rund vier Stunden rechnen. Ein Beispiel von vielen, das zeigt, wie beschwerlich es die Menschen aus dem Vogelsberg einst hatten, um zur Arbeit und damit zu Lohn und Brot in der Großstadt zu kommen. Bis zum 27. September 1975 aber hatten sie diese Möglichkeit noch, denn bis zu diesem Datum gab es sie: die Vogelsbergbahn von Lauterbach nach Stockheim und damit die Verbindung ins Rhein-Main-Gebiet. Ihre An- und Abfahrtszeiten standen im Kursbuch der Deutschen Bahn. Ernst Bäppler hat die Ausgabe vom Sommer 1975 zur Ausstellungseröffnung im Hessenpark mitgebracht. Wie auch Wilfried Kohlmeier seine Kamera, mit der er wie sein Freund längs der Gleise und Bahnhöfe zwischen Lauterbach und Stockheim unterwegs war. Ihre Leidenschaft für die Eisenbahn und die Fotografie hat die beiden in den 1970er Jahren zusammengebracht – eher durch einen Zufall: arbeiteten sie doch beide damals am Landgericht in Hanau.

Reisen im Blumenpflücktempo

Eine Kamera und das Kursbuch der Deutschen Bahn: Für Ernst Bäppler (links) und Wilfried Kohlmeier ein „Equipment“, das völlig ausreichte. (Fotos: Willführ)

Während Wilfried Kohlmeier aus einer Eisenbahnerfamilie stammt (bis 1948 in der vierten Generation) fand Ernst Bäppler seine Leidenschaft zu Loks und Triebwagen durch das Auto. Denn mit seinem NSU Prinz fuhr der Führerscheinneuling über die Dörfer, hielt auf Fotos jene Verkehrsmittel fest, die sich im „Blumenpflücktempo“ durch seine Heimat bewegten. Wie den Triebwagen 798 vor Schloss Eisenach. Vom 27.September 1975 stammen die Aufnahmen der Diesellok 216 130. Sie steht im Bahnhof Ortenberg. Die Stationsuhr zeigt auf dem Foto die Uhrzeit: 16.20 Uhr. „Mit drei Minuten Verspätung ein letzter Abfahrtspfiff“, lesen die Ausstellungsbesucher unter dem Bild. Es sind nur wenige Zeilen, die den Fotografien mitgegeben sind. Kurze Informationen, ausreichend für alle, die die Vogelsbergbahn kannten, und jene neugierig machen, sich mit den insgesamt 94 Fotos auf eine Zeitreise in die Vergangenheit begeben möchten. Und das gilt nicht nur für Eisenbahnfreunde.

Beispielhaft für die Verkekrsentwicklung

Für Jens Scheller, Leiter des Hessenparks, passt die Ausstellung gut in das Konzept des Freilichtmuseums. Ist es doch dessen Ziel, die Alltagskultur in Hessen nicht nur aus der Vergangenheit zu zeigen, sondern eine „Brücke in die Gegenwart zu schlagen.“ So sei die Geschichte der Vogelsbergbahn „paradigmatisch für eine Mobilitätsentwicklung“ gewesen. Ihre Stilllegung ein Beispiel für das Aus vieler Bahnstrecken im ländlichen Raum. Ein „Schicksal, das auch der Taunusbahn drohte“, so Scheller. Die einstigen Prognosen zur Fahrgastentwicklung seien bei dieser aber um „ein Mehrfaches übertroffen worden“. Sie ist heute ein unverzichtbares – und bestens ausgelastetes – Verkehrsmittel für Pendler nach Frankfurt. Ein Foto wie das der Diesellok 216 130 im Bahnhof von Ortenberg im Wetteraukreis vom 27. September 1975 gibt es also aus dem Taunus nicht.

Ernst Bäppler (links) und Jens Scheller, Leiter des Freilichtmuseums Hessenpark, zeigen den Ausstellungsbesuchern auf einer Landkarte die Strecke der Vogelsbergbahn.

Den Güterverkehr dokumentieren die Bilder im Parterre der Ausstellung (Haus aus Ransbach, Baugruppe Nordhessen). Um die Personenzüge geht es im ersten Stock. Im Zweiten gilt es Besonderheiten aus der Geschichte der Vogelsbergbahn zu entdecken, wie eben die Sonderzüge, die mit ihren Tanzabteilen amüsierfreudige Passagiere an den Rhein oder die Mosel brachten.
So liefert die Sonderausstellung, die durch die Leidenschaft zweier Eisenbahn- und Fotografie-Freunde entstanden ist, die die Fotos erstmal zu ihrem Vergnügen machten, heute eine sehenswerte Dokumentation zur sozio-kulturellen Entwicklung der Mobilität im ländlichen Raum – und ästhetische Erinnerungen an die „schönste hessische Gebirgseisenbahn“. Von den beiden Fotografen gibt es zum Thema auch ein Buch. Von der zweiten Auflage sind nur noch wenige Exemplare erhältlich – in der Sonderausstellung (bis 3. Dezember) im Freilichtmuseum Hessenpark.
hessenpark.de

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